Der Patient
scheinheilig es war, wenn sich ein Psychoanalytiker schlafen legte und verzweifelt wünschte, dass ihn keine Träume quälten. Träume waren wichtig, sie waren unbewusste Rätsel, die den Gemütszustand spiegelten. Das wusste er sehr wohl, und gewöhnlich ließ er sich gerne von ihnen leiten. In dieser Nacht jedoch fühlte er sich völlig überfordert, und so legte er sich benommen auf den Rücken, fühlte seinen immer noch beschleunigten Puls und wartete sehnsüchtig, dass das eingenommene Mittel ihn über die Schwelle ins Dunkel beförderte. Ein einziger Drohbrief hatte ihn völlig ausgelaugt, und er fühlte sich in diesem Moment viel älter als die dreiundfünfzig Jahre, die er gerade vollendet hatte.
Seine erste Patientin an diesem letzten Tag vor seinem geplanten vierwöchigen Sommerurlaub traf pünktlich um sieben Uhr morgens ein und meldete sich mit dreimaligem Klingeln im Wartezimmer. Die Sitzung verlief seiner Meinung nach gut. Nichts Aufregendes, nichts, was aus dem Rahmen fiel, immerhin aber ein kleiner Schritt zur Besserung. Die junge Frau auf der Couch war Sozialarbeiterin in ihrem dritten Jahr in der Psychiatrie, die ihren Abschluss als Psychoanalytikerin ohne Medizinstudium anstrebte. Auch wenn dies weder der effizienteste noch der leichteste Weg zum Berufsabschluss war und natürlich den Missmut seiner dogmatischeren Kollegen erregte, hatte er einen solchen Werdegang immer bewundert. Er setzte wahre Leidenschaft für diese Tätigkeitvoraus, einen unbeirrbaren Glauben an die Segnungen der Couch. Nicht selten gestand er sich ein, dass er aus dem Doktorgrad, der seinen Namen schmückte, so gut wie keinen Nutzen hatte ziehen können. Die Therapie der jungen Frau konzentrierte sich auf ein übermäßig aggressives Elternpaar, das während ihrer Kindheit eine leistungsorientierte, zuneigungsarme Atmosphäre verbreitet hatte. Infolgedessen war sie bei ihren Sitzungen mit Ricky oft ungeduldig auf Erkenntnisse aus, die sich mit ihrer Fachlektüre und Seminararbeit am Institut für Psychoanalyse im Zentrum Manhattans deckten. Ricky musste sie daher ständig zügeln und ihr begreiflich machen, dass die Kenntnis von Fakten nicht dasselbe wie intuitive Einsicht war.
Als er leise hüstelte, die Stellung wechselte und sagte: »Also, leider ist unsere Zeit für heute um«, seufzte die junge Frau, die gerade einen neuen Liebhaber von zweifelhaftem Potential beschrieben hatte. »Na ja, sehen wir mal, ob es ihn in einem Monat noch gibt …« – worüber Ricky schmunzeln musste.
Die Patientin schwang die Beine von der Couch und sagte: »Dann einen schönen Urlaub, Doktor Starks. Wir sehen uns nach dem Labour Day.« Damit schnappte sie sich ihre Handtasche und verließ mit wenigen Schritten das Behandlungszimmer.
Der ganze Tag schien sich in Routine und Normalität zu erschöpfen.
Ein Patient nach dem anderen betrat die Praxis und brachte wenig Aufregendes mit. Zumeist handelte es sich um alte Hasen, die das alljährliche Ferienritual längst verinnerlicht hatten, und mehr als einmal kam ihm der Verdacht, dass sie es unbewusst darauf angelegt hatten, mit Gefühlen hinter dem Berg zu halten, die sie erst in einem Monat wieder aufgreifen würden. Natürlich war das, was unausgesprochen blieb, nichtweniger faszinierend als das, was sie von sich gaben, und bei keinem Patienten entgingen ihm diese Lücken in ihren Erzählungen. Er hatte größtes Vertrauen in seine Fähigkeit, sich genau an verwertbare Formulierungen seiner Patienten zu erinnern, die er möglicherweise nach Ablauf der vierwöchigen Pause aus der Versenkung holen würde.
In den Minuten zwischen den Terminen machte er sich jedesmal daran, seine eigene Laufbahn zurückzuverfolgen und eine Liste anzulegen, indem er Patientennamen auf einem leeren Stenoblock notierte. Je länger der Tag, desto länger die Liste. Sein Gedächtnis, stellte er fest, funktionierte immer noch ausgezeichnet. Die einzige Entscheidung an diesem Tag stellte sich in der Mittagspause ein, in der er normalerweise, genau wie von Rumpelstilzchen beschrieben, seinen gewohnten strammen Spaziergang unternahm. Diesmal zögerte er, da ein Teil von ihm mit der Routine brechen wollte, die der Unbekannte so präzise beschrieben hatte, eine Art Trotzreaktion. Dabei hatte er aber begriffen, dass er sich ihm viel besser widersetzen konnte, wenn er – in der Hoffnung, dass der Kerl ihn sah und begriff, dass er ihn nicht eingeschüchtert hatte – an seinem Tagesablauf festhielt. Und so verließ
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