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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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vergessen, in mehr als einer Hinsicht. Damals war ich ihre Vertrauenslehrerin. Ich bin beruflich weitergekommen.«
    »Offensichtlich«, sagte Ricky. »Aber Ihr Erinnerungsvermögen, besonders nach so vielen Jahren …«
    Die Frau winkte ab. Sie stand auf und ging an ein Bücherregal an der Rückwand, um wenig später mit einem alten, in Kunstleder eingebundenen Jahrbuch der Klasse von 1967 zurückzukehren. Sie reichte es Ricky über den Tisch.
    Es war ein ganz und gar typisches Jahrbuch: Seite um Seite Schnappschüsse von Schülern bei verschiedenen Aktivitäten oder Spielen, ergänzt durch übertrieben enthusiastische Texte. Zum größten Teil bestand es aus offiziellen Porträts der Abschlussklasse. Es waren gestellte Aufnahmen von jungen Leuten, die älter und ernster auszusehen versuchten, als sie waren. Ricky blätterte die Reihe durch, bis er zu Claire Tyson kam.
    Er hatte etwas Mühe, zwischen der Frau, die rund zehn Jahre später bei ihm in der Praxis gewesen war, und diesem frischen, herausgeputzten, fast erwachsenen Mädchen im Jahrbuch eine Verbindung herzustellen. Ihr Haar war länger und fiel ihr in einer großzügigen Welle über die Schulter. Um ihre Lippen spielte ein zartes Grinsen, sie wirkte einen Hauch weniger steif als die meisten ihrer Klassenkameraden, so wie jemand, der um ein Geheimnis weiß. Er las den Eintrag neben ihrem Porträt. Darin waren ihre AGs aufgelistet – Französisch, Naturwissenschaften, Hauswirtschaftslehre und der Theaterclub – daneben ihre Sportarten, Softball und Volleyball. Darüber hinaus waren ihre akademischen Meriten aufgeführt, zu denen ein Platz unter den Spitzenschülern über acht Semester hinweg sowie eine Empfehlung für ein Stipendium gehörten. Ein Zitat von ihr fiel zwar unter die Rubrik Humor, hatte für Ricky jedoch einen unheimlichen Beigeschmack. »Tu anderen, bevor sie dir tun, wie du nicht willst …«
    Dann die Rubrik Vorhersage: »Möchte auf der Überholspur leben …«, und ein Blick in die Kristallkugel des Teenagers: »In zehn Jahren wird sie sein: Auf dem Broadway oder darunter …«
    Die Direktorin sah ihm über die Schulter. »Sie hatte keine Chance«, sagte sie.
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Ricky.
    »Sie war das einzige Kind, ähm, schwieriger Eltern. Die am Rande der Armut lebten. Der Vater war ein Tyrann. Vielleicht schlimmer als das …«
    »Sie meinen …«
    »Wir konnten viele der klassischen Zeichen für sexuellen Missbrauch bei ihr ausmachen. Ich hab oft mit ihr gesprochen, wenn sie diese unkontrollierbaren Anfälle von Depression überkamen. Sie weinte. Hysterisch. Dann wieder war sieruhig, unterkühlt, fast entrückt, als wäre sie gar nicht da, obwohl sie vor mir saß. Hätte ich auch nur den geringsten konkreten Beweis gehabt, hätte ich die Polizei gerufen, aber was sie verraten hat, reichte nie aus, um diesen Schritt zu rechtfertigen. In meiner Position muss man vorsichtig sein. Außerdem wussten wir damals noch nicht so viel über diese Dinge wie heute.«
    »Natürlich.«
    »Und dann wusste ich, dass sie die erste Gelegenheit wahrnehmen würde zu türmen. Dieser Junge …«
    »Ihr Freund?«
    »Ja. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie, als sie in dem Frühjahr ihren Abschluss machte, schwanger war, und zwar schon ziemlich lang.«
    »Wissen Sie noch, wie er hieß? Könnte ja sein, dass noch eins der Kinder … Das könnte von entscheidender Bedeutung sein, wissen Sie, bei dem Genpool und so, ich verstehe nichts von diesen Dingen, die mir die Ärzte da erzählen, aber …«
    »Es gab ein Baby. Aber ich weiß nicht, wie es weiterging. Sie haben hier keine Wurzeln geschlagen, so viel steht fest. Den Jungen drängte es zur Marine, auch wenn ich nicht sicher sagen kann, ob er tatsächlich da gelandet ist, und sie ging ans hiesige College. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt geheiratet haben. Ich hab sie mal wiedergesehen, auf der Straße. Sie blieb stehen, um Hallo zu sagen, aber das war’s auch schon. Es war, als könnte sie einfach über nichts reden. Claire schämte sich immerzu für dieses oder jenes. Das Problem war, dass sie ein intelligentes Mädchen war. Wundervoll auf der Bühne. Sie konnte jede Rolle spielen, von Shakespeare bis hin zu ›Guys and Dolls‹. Echtes Schauspieltalent. Ihr Problem war die Realität.«
    »Verstehe …«
    »Sie gehörte zu diesen Menschen, denen man gerne helfen möchte, ohne es zu können. Sie war immer auf der Suche nach jemandem, der sich um sie kümmern würde, aber sie ist immer auf

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