Der Patient
Anwalts in die Tasche. Er wusste, wer den alten Mann vor die Tür gesetzt hatte. Doch er hätte gerne gewusst, ob der alte Mann in der Hitze und der Verzweiflung dieses Augenblicks begriffen hatte, dass ihm das vom Kindseines Kindes angetan wurde, dem er vor so vielen Jahren den Rücken gekehrt hatte.
Kaum sieben Straßen von dem Haus, aus dem Claire Tyson geflüchtet war, befand sich eine große, weitläufige Highschool. Ricky bog auf den Parkplatz ein, starrte zu dem Gebäude hoch und versuchte, sich vorzustellen, wie ein Kind in diesem Gemäuer seine Individualität entfalten, geschweige denn Bildung erlangen konnte. Es war ein riesiger sandfarbener Zementkomplex mit einem Footballplatz sowie einer Aschenbahn hinter einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun. Es kam Ricky so vor, als hätte der Architekt einfach ein riesiges Rechteck gezeichnet und ein zweites angefügt, so dass ein T-förmiger Klotz entstand, und fertig war der Lack. An eine Mauer waren die Umrisse eines riesigen Helms nach Art der alten Griechen aufgemalt und dazu in verblasster, roter Schreibschrift der Slogan: HIER SIND DIE SOUTH SIDE SPARTANS ZUHAUSE! Wie ein Napfkuchen in der Röhre schmorte das Ganze unter dem wolkenlosen Himmel und der gnadenlosen Sonne.
Direkt hinter dem Haupteingang befand sich ein Wachtisch, an dem ein Mann vom Sicherheitsdienst in blauem Hemd und schwarzer Hose, dazu Lackledergürtel und -schuhe in Schwarz – zumindest der Kleidung nach so etwas wie ein Polizist – einen Metalldetektor bediente. Der Wachmann beschrieb Ricky den Weg zu den Verwaltungsbüros, ließ ihn dann zwischen den Pfosten der Apparatur hindurchlaufen und zeigte noch einmal die Richtung an. Rickys Absätze klickten über den gewienerten Linoleumboden des Korridors. Er war kurz nach der Pause gekommen und hatte daher die Flure mit ihren grauen Spinden fast für sich allein. Nur ab und zu eilte ein Schüler an ihm vorbei.
Hinter der Tür mit der Aufschrift VERWALTUNG saß eine Sekretärin an ihrem Schreibtisch. Er erklärte ihr den Grund für seinen Besuch, und sie verwies ihn an die Direktorin. Während die Sekretärin kurz mit ihrer Vorgesetzten sprach, wartete Ricky vor der Tür. Die Frau kam zurück und geleitete ihn hinein. Er betrat den Raum und erblickte eine Frau in reiferem Alter, die Bluse bis unters Kinn zugeknöpft, die über die Brille hinweg von ihrem Computerbildschirm aufsah und ihm einen schulmeisterlich strengen Blick zuwarf. Sie schien von seiner Störung nicht begeistert, bot ihm aber dennoch einen Stuhl an und drehte sich hinter ihrem mit Papieren übersäten Schreibtisch zu ihm um. Er nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem sich, wie er vermutete, meist verängstigte Schüler wanden, die sich bei einer Übertretung hatten erwischen lassen, oder auch entsetzte Eltern, die von dem Vorfall erfuhren.
»Was genau kann ich für Sie tun?«, fragte die Direktorin kurz angebunden.
Ricky nickte. »Ich bin auf der Suche nach Informationen«, sagte er. »Ich stelle Nachforschungen über eine junge Frau an, die in den späten Sechzigern hier zur Schule ging. Sie hieß Claire Tyson …«
»Die Schulakten sind vertraulich«, unterbrach ihn die Direktorin. »Aber ich entsinne mich an die junge Frau.«
»Dann müssen Sie schon eine ganze Weile an der Schule sein …«
»Mein ganzes Berufsleben«, sagte die Direktorin. »Ich kann Ihnen das Jahrbuch von 1967 zeigen, aber sonst weiß ich nicht, ob ich eine große Hilfe bin. Wie gesagt, die Schülerakten sind vertraulich.«
»Also, ich brauche ihre Schülerlakte eigentlich gar nicht«, sagte Ricky und zog seinen Krebsklinikbrief aus der Tasche,um ihn der Schulleiterin zu reichen. »Ich bin eigentlich nur auf der Suche nach jemandem, der vielleicht von einem Verwandten weiß …«
Die Frau überflog den Brief. Ihr Gesicht nahm einen milderen Ausdruck an. »Verstehe«, sagte sie in apologetischem Ton. »Tut mir leid. Mir war nicht klar …«
»Schon in Ordnung«, sagte Ricky. »Das Ganze ist ziemlich aussichtslos, aber wenn man eine Nichte hat, die krank ist, will man natürlich nichts unversucht lassen.«
»Selbstverständlich«, beeilte sich die Frau. »Wer würde das nicht. Ich glaube allerdings nicht, dass hier in der Gegend noch irgendwelche Tysons übrig sind. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste, und ich kann mich so ziemlich an jeden erinnern, der hier zur Tür hereinspaziert.«
»Ich staune, dass Sie sich an Claire erinnern können …«, sagte Ricky.
»Claire kann man nicht so leicht
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