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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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die falschen gestoßen. Unweigerlich.«
    »Der Junge?«
    »Daniel Collins?« Die Direktorin nahm das Jahrbuch und blätterte ein paar Seiten zurück, um es Ricky erneut zu reichen. »Sieht gut aus, was? Frauenheld. Football und Baseball, aber nie ein Star. Weiß Gott nicht dumm, ohne sich allerdings im Unterricht hervorzutun. Der Typ, der immer weiß, wo’s was zum Feiern gibt, wo’s was zu trinken gibt, oder auch Pot, und er war derjenige, der sich nie erwischen ließ. Einer von der Sorte, die sich so durchwurstelt. Hatte jedes Mädchen im Schlepptau, das er wollte, aber besonders Claire. Das war eine von diesen Beziehungen, bei denen Sie von vornherein wissen, dass das nicht gut gehen kann und nichts als Ärger bringt.«
    »Sie mochten ihn offenbar nicht sonderlich?«
    »Was sollte man an dem mögen? Er hatte was von einem Raubtier. Einiges sogar. Interessierte sich nur für sich selbst und seine eigene Befindlichkeit.«
    »Haben Sie die hiesige Adresse seiner Familie?«
    Die Direktorin stand auf, ging an den Computer und tippte einen Namen ein. Dann nahm sie einen Bleistift und schrieb eine Telefonnummer auf einen Zettel ab, den sie Ricky reichte. Er nickte.
    »Sie glauben also, er hat sie verlassen …«
    »Sicher. Nachdem er sie aufgebraucht hatte. Darin war er gut: Leute zu benutzen und dann fallen zu lassen. Ob das ein Jahr oder zehn gedauert hat, weiß ich nicht. Wenn Sie lange genug in meinem Beruf gearbeitet haben, dann bekommen Sie einenziemlich guten Riecher dafür, was später mal aus diesen Jugendlichen wird. Manche überraschen einen, aber nicht allzu viele.« Sie deutete auf die Vorhersage im Jahrbuch. »Auf dem Broadway oder darunter.« Ricky wusste, was eingetroffen war. »Die Schüler verbinden immer einen Witz mit einer Prognose. Aber das Leben ist selten so amüsant, nicht wahr?«
     
    Bevor er sich auf den Weg zum Veteranenkrankenhaus begab, fuhr Ricky bei seinem Motel vorbei und zog den schwarzen Anzug an. Dann nahm er das Kleidungsstück mit, das er sich an der Universität in New Hampshire aus der Theater-Requisite ausgeliehen hatte, legte sich den Kragen um den Hals und bewunderte sich im Spiegel.
    Das Krankenhaus war ein ähnlich seelenloses architektonisches Gebilde wie die Highschool. Der zweigeschossige weiß getünchte Klinkerbau wirkte, als habe man ihn zwischen mindestens sechs verschiedenen Kirchen hingeknallt. Pfingstler, Baptisten, Katholiken, Kongregationalisten, Unitarier, Afrikanisch-Methodistische Episkopale hatten allesamt Schilder mit Frohbotschaften auf den Rasenflächen vor den Eingangsportalen aufgepflanzt, in denen die ungetrübte Freude über Jesu nahes Kommen verkündet oder zumindest der Trost des biblischen Wortes verheißen wurde, das zweimal pro Sonntag inbrünstig gepredigt wurde. Ricky, dem in seiner psychoanalytischen Praxis der Respekt vor der Religion vergangen war, hatte sein heimliches Vergnügen an dem Widerspruch des Veteranenkrankenhauses zu den Gotteshäusern: Es war, als bildete die raue Realität der Abgeschobenen, für die die Einrichtung stand, ein gehöriges Gegengewicht zu dem geballten Optimismus, der sich in den Kirchen austobte. Er fragte sich, ob Claire Tyson wohl regelmäßig zur Kirche gegangen war. Vermutlich schon, wenn man bedachte, wo sieaufgewachsen war. Das Problem war nur, dass die fromme Gewohnheit die Leute nicht daran hinderte, an den übrigen Wochentagen ihre Frauen zu schlagen oder ihre Kinder zu missbrauchen, was Jesus, da war er sich relativ sicher, nicht gut geheißen hätte, falls er denn überhaupt eine Meinung dazu hatte.
    Das Veteranenkrankenhaus zierten zwei Fahnenmasten, an denen Seite an Seite das Sternenbanner und die Flagge von Florida schlaff in der für den Spätfrühling untypischen Hitze hingen. Neben der Einfahrt waren ein paar wenig überzeugende Büsche gepflanzt, und Ricky sah einige alte Männer in abgerissener Anstaltskleidung in ihren Rollstühlen unbeaufsichtigt in der Nachmittagshitze auf einer kleinen Veranda sitzen. Die Männer hockten nicht in einer Gruppe oder auch nur je zu zweit beisammen. Vielmehr schien jeder für sich in einer eigenen Umlaufbahn zu kreisen, die dem Diktat des Alters und der Krankheit folgte. Er ging weiter durch die Eingangstür. Im Innern war es dunkel, man fühlte sich fast wie in einem klaffenden Schlund. Er schauderte beim Betreten. Die Krankenhäuser, in die er seine Frau gebracht hatte, bevor sie starb, waren hell, modern und so konzipiert gewesen, dass sie vom Fortschritt

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