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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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vorüberkam, wurde es immer schäbiger und schmuddeliger, bis er die letzte Station erreichte, eine Doppeltür, in die die Aufschrift HOSPIZ STATION eingestanzt war. Demjenigen, der die Beschriftung vorgenommen hatte, waren die Buchstaben auf den beiden Flügeln ein wenig verrutscht, so dass sie keine gerade Linie bildeten.
    Der Priesterkragen und der Anzug erfüllten auch hier ihren Zweck, stellte Ricky fest. Niemand forderte ihn auf, sich auszuweisen, niemand schien an seiner Anwesenheit den geringsten Anstoß zu nehmen. Als er die Station betrat, entdeckte er ein Schwesternzimmer und ging auf die Theke zu. Die diensthabende Schwester, eine kräftig gebaute schwarze Frau, sah auf und sagte: »Ah, Herr Pfarrer, die haben schon angerufen und mir gesagt, dass Sie kommen. Mr. Tyson liegt auf Zimmer dreihundert. Das Bett direkt an der Tür …«
    »Danke«, sagte Ricky. »Ob Sie mir vielleicht sagen können, woran er leidet …«
    Die Schwester reichte Ricky daraufhin pflichtbewusst ein Krankenblatt. Lungenkrebs. Nicht mehr viel Zeit, und diegrößtenteils unter Schmerzen. Er empfand eine Spur von Mitleid.
    Unter dem Vorwand, Hilfe zu leisten, dachte Ricky, bringen Krankenhäuser eine Menge Erniedrigung mit sich. Das traf zweifellos auf Calvin Tyson zu, der an eine Reihe Maschinen angeschlossen war und in halb sitzender Stellung unbequem auf dem Bett ruhte und auf einen Fernseher starrte, der zwischen ihm und seinem Zimmernachbarn hing. Es lief eine Soap, doch ohne Ton. Außerdem war das Bild verschwommen.
    Tyson war abgemagert, nur noch Haut und Knochen. Er hatte eine Sauerstoffmaske um den Hals, die er sich gelegentlich an die Nase hielt, um besser Luft zu bekommen. Seine Nase hatte die für Lungenemphysem typische bläuliche Färbung, und seine knorrigen, nackten Beine lagen auf dem Laken ausgestreckt wie Äste und Stöcke, die der Sturm vom Baum gerissen und über die Straße verstreut hatte. Der Mann im Nachbarbett sah kaum anders aus, und die beiden röchelten in einem qualvollen Duett. Tyson drehte, als Ricky den Raum betrat, den Kopf ein wenig zur Seite. »Ich will mit keinem Priester reden«, keuchte er heraus. Ricky lächelte, nicht freundlich. »Aber dieser Priester will mit Ihnen sprechen.«
    »Ich will meine Ruhe«, sagte Tyson.
    Ricky betrachtete den Mann in dem Bett von oben bis unten. »Wie’s aussieht«, sagte er unverblümt, »ruhen Sie bald in alle Ewigkeit.«
    Tyson schüttelte mühsam den Kopf. »Brauch keine Religion, jetzt nich mehr.«
    »Ich wollte auch keine an Sie verschwenden«, erwiderte Ricky, »jedenfalls nicht, wie Sie denken.«
    Ricky blieb stehen und schloss sorgsam die Tür hinter sich.
    Er sah, dass über der Ecke des Betts ein Paar Kopfhörer für den Ton des Fernsehers baumelten. Er ging um das Bettende herum und starrte Tysons Zimmernachbarn an.
    Auch wenn der Mann keinen Deut besser dran zu sein schien, erwiderte er Rickys Blick mit distanzierter Erwartung. Ricky zeigte auf die Kopfhörer neben seinem Bett. »Wollen Sie die aufsetzen, damit ich vertraulich mit Ihrem Nachbarn reden kann?«, fragte er, obwohl es einer Order gleichkam. Der Mann zuckte die Achseln und stülpte sich die Dinger mühsam über die Ohren.
    »Gut«, sagte Ricky wieder an Tyson gewandt. »Wissen Sie, wer mich schickt?«, fragte er.
    »Keine Ahnung«, krächzte Tyson. »Is keiner mehr da, dem ich was bedeute.«
    »Da irren Sie«, erwiderte Ricky. »Da irren Sie gewaltig.«
    Ricky beugte sich über den sterbenden Mann und flüsterte kalt: »Also, alter Mann, raus mit der Sprache: Wie oft hast du deine Tochter gevögelt, bevor sie für immer abgehauen ist?«

26
     
    Die Augen des alten Mannes weiteten sich vor Staunen, und er rutschte auf seinem Bett hin und her. Er hob eine knöcherne Hand und fuchtelte damit in dem geringen Abstand zwischen Ricky und seiner eingefallenen Brust in der Luft, als könnte er die Frage von sich weisen, doch schwach, wie er war, blieb es bei einer hilflosen Geste. Er hustete und keuchte und schluckte schwer, bevor er antwortete: »Was sind Sie für ein Priester?«
    »Ein Priester der Erinnerung«, erwiderte Ricky.
    »Wie meinen Sie das?« Die Worte kamen gehetzt. In Panik schossen seine Blicke durch den Raum, als suchte er verzweifelt nach Hilfe.
    Ricky ließ sich mit der Antwort Zeit. Er betrachtete den sich windenden Calvin Tyson und überlegte, ob Tyson vor Ricky Angst hatte oder vor der Geschichte, die Ricky offenbar über ihn wusste. Er vermutete, dass der Mann – allen

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