Der Patient
mieser alter Knacker, nich gerade besonders beliebt bei den Nachbarn, keine Freunde, keine Familie, jedenfalls nich, dass einer wüsste. Bleibt ihm nur dasselbe als wie bei mir, nur Rechnungen. Leute, wo ihr Geld haben wollen. Dann irgendwann zahlt er seine Zinsen nich pünktlich, und er kriegt raus, dass es nich mehr die alte Bank is, wo seinen Schuldschein hat – den hat jemand der Bank abgekauft. Er kann wieder nich bezahlen, vielleicht noch mal nich, und der Sheriff schickt seine Leute mit ’nem Räumungsbescheid. Und zack sitzt der Alte auf der Straße. Nächste, was ich höre, is, dass er im Veteranenheim landet. Glaub kaum, dass er da je wieder rauskommt, außer vielleicht mit die Füße zuerst.«
Ricky dachte über die Geschichte nach. »Und Sie sind nach der Zwangsräumung eingezogen?«
»Ja.« Charlene seufzte und schüttelte den Kopf. »Dieser ganze Häuserblock muss noch vor zwei Jahren viel, viel besser dran gewesen sein. Nich so viel von dieser üblen Sorte, nich so viel gesoffen, nich so viel Prügeleien. Hab gedacht, wär ’n guter Anfang hier, aber jetzt wüsste ich nich mal, wo ich sonst hin soll, und Geld für ’n Umzug is auch keins da. Jedenfallshab ich die Geschichte über die Alten von den Leuten gegenüber. Sind inzwischen weg. Wahrscheinlich sind alle, die den Alten noch gekannt haben, weg. Aber zu viele Freunde hat er, wie’s aussieht, nich gehabt. Der alte Mann hatte ’nen Pitbull, war da hinten, wo unserer jetzt is, an der Kette. Unser Hund, der bellt einfach nur, macht Radau, so wie eben, wo Sie gekommen sind. Wenn ich ihn loslasse, kommt er und leckt Sie eher im Gesicht, als dass er Sie beißt. Tysons Pitbull is da ganz was anderes gewesen. Als er jung war, da hat er bei diesen Hundekämpfen mitgemacht und ordentlich zugebissen. So wo können Sie ’ne Menge weiße Männer schwitzen sehen, die Geld verwetten, wo sie nich haben, und sie trinken und fluchen. So wo kommen die Touristen nich hin, die nach Florida kommen, auch nich die Leute von der Navy. Is eher wie in Alabama oder Mississippi. Hinterwäldler-Florida. Hinterwäldler und Kampfhunde.«
»Klingt nicht so toll«, sagte Ricky.
»Sind ’ne Menge Kinder hier im Viertel. So ’n Hund is ’ne Gefahr für alle, kann eins von denen was tun. Is vielleicht noch ’n Grund, wieso die Leute hier aus der Gegend den Kerl nich sonderlich leiden konnten.«
»Was für Gründe gibt es denn noch?«
»Hab so was läuten gehört.«
»Was haben Sie läuten gehört?«
»Üble Sachen, Mister. Gemeine, ekelhafte Sachen, richtig mies. Weiß nich, ob das alles stimmt, deshalb hat mir meine Mutter, mein Vater beigebracht, nich Sachen weiterzusagen, die wo ich nich sicher weiß, ob sie stimmen. Aber vielleicht fragen Sie jemand anders, der nich so gottesfürchtig ist wie ich, der erzählt Ihnen wahrscheinlich mehr. Wüsste allerdings nich, wer. Keiner mehr da von damals.«
Ricky überlegte wieder einen Moment und fragte dann: »HabenSie den Namen, vielleicht die Anschrift von dem Mann, dem Sie jetzt Miete zahlen?«
Charlene sah ihn ein wenig erstaunt an und sagte dann, »Sicher. Ich stell den Scheck auf ’n Anwalt im Zentrum aus und schick ihn an ’nen anderen Mann bei der Bank. Wenn ich das Geld habe.« Sie hob ein Stück Buntstift vom Boden auf und schrieb einen Namen und eine Anschrift auf die Rückseite einer Mietmöbelfirma. Auf dem Umschlag war ein Stempel: ZWEITE MAHNUNG. »Hoffe, das hilft Ihnen irgendwie weiter.«
Ricky zog noch zwei Zwanzig-Dollar-Scheine aus der Brieftasche und reichte sie der Frau. Sie bedankte sich mit einem stummen Nicken. Er zögerte und zog noch einen dritten heraus. »Für das Baby«, sagte er.
»Nett von Ihnen, Mister.«
Als er wieder zur Straße lief, hielt er sich die Hand über die Augen. Der Himmel über ihm war eine einzige unbeirrbare blaue Weite, und es war noch heißer geworden. Für einen Moment fühlte er sich an die Hochsommertage in New York erinnert und an seine regelmäßige Flucht in das kühlere Klima am Cape. Das war vorbei, dachte er. Er sah zu seinem Leihwagen am Bürgersteig hinüber und versuchte, sich einen alten Mann vorzustellen, der zwischen seinen dürftigen Habseligkeiten auf der Straße sitzt. Ohne Freunde aus dem Haus geschmissen, in dem er so viele Jahre ein hartes, zumindest aber sein eigenes Leben geführt hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken, rausgeschmissen. Dem Alter, der Krankheit und der Einsamkeit überlassen. Ricky steckte das Papier mit Namen und Adresse des
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