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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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gewesen wäre, dem Menschen, der sich jeden Sommer auf dem Cape wiederfand, viel näher stand als Dr. Starks je begriffen hätte, so lange er die reichen und mächtigen Stadtneurotiker therapierte.
    Anonymität, dachte er, hat etwas Verführerisches.
    Aber auch Flüchtiges. Denn jede Sekunde, die er sich zwang, in diesem neuen Leben heimisch zu werden, war der Rächer Frederick Lazarus entschieden anderer Meinung. Und so nahm er wieder sein Fitnesstraining auf und verbrachte einen Großteil seiner Freizeit damit, sein Können als Scharfschütze am Schießstand zu perfektionieren. Als das Wetter immer besser wurde und unter der zunehmenden Wärme die große Farbenpracht ausbrach, kam er zu dem Schluss, dass er sein Repertoire um ein paar aushäusige Aktivitäten erweitern sollte, weshalb er sich unter dem Namen Frederick Lazarus für einen Orientierungskurs des örtlichen Wander- und Camping-Clubs einschrieb.
    Er war, konnte man sagen, abgesteckt, so wie man seinen Standort markiert, wenn man sich im Wald verlaufen hat. Drei Markierungspflöcke: Wer er war, zu wem er geworden war, zu wem er werden musste.
    Wenn er spätabends beim spärlichen Licht seiner Schreibtischlampe allein in seinem dunklen Mietszimmer saß, dann fragte er sich oft, ob er allem, was geschehen war, einfach den Rücken kehren konnte; jede emotionale Beziehung zu seiner Vergangenheit radikal kappen und ein ganz schlichter Mensch werden sollte. Von einem Lohnscheck zum nächsten leben. Sich an einfacher Routine erfreuen. Sich neu erfinden. Hobbyangler oder -jäger werden oder auch nur viel lesen. Ein mönchisch karges Einsiedlerdasein führen. Unter die dreiundfünfzig Jahre seiner Biografie einen Schlussstrich ziehen und ab dem Tag, an dem er sein Haus auf dem Cape Cod in Brand gesteckt hatte, eine unbeschriebene Seite aufschlagen. Das hatte etwas von Zen, etwas sehr Verlockendes. Ricky konnte von dieser Welt verdunsten wie eine Wasserlache an einem heißen, sonnigen Tag.
    Diese Option war fast so erschreckend wie ihre Alternative.
    Er hatte das Gefühl, den Moment erreicht zu haben, an dem er sich entscheiden musste. Wie bei Odysseus führte sein Weg zwischen Scylla und Charybdis hindurch. Egal, wie seine Wahl ausfiel, zahlte er einen hohen Preis und ging ein hohes Risiko ein.
    Spätnachts breitete er in seinem bescheidenen Zimmer in New Hampshire sämtliche Notizen und Querverweise zu dem Menschen, der ihn gezwungen hatte, sich selbst vom Erdboden zu tilgen, auf seiner Bettdecke aus. Kleine, bruchstückhafte Informationen, Anhaltspunkte und Verbindungslinien, denen er nachgehen konnte. Oder auch nicht. Entweder, er verfolgte den Mann, der ihm das angetan hatte, und riskiertedie eigene Entlarvung. Oder er schmiss alles hin und machte aus dem Leben, das er sich bereits eingerichtet hatte, einfach das Beste. Ein bisschen fühlte er sich wie ein spanischer Konquistador des fünfzehnten Jahrhunderts, der an Deck eines auf und nieder gehenden winzigen Segelbootes steht, über die Weite des tiefgrünen Ozeans blickt und vielleicht – wer weiß? – eine neue, ungewisse Welt direkt hinter dem Horizont entdeckt.
    In der Mitte lagen die Dokumente, die er dem alten Tyson auf dem Totenbett im Veteranenkrankenhaus in Pensacola abgeknöpft hatte. Darin standen die Namen der Adoptiveltern, die die drei Kinder vor zwanzig Jahren aufgenommen hatten. Dorthin, so wusste er, führte ihn sein nächster Schritt.
    Jetzt hieß es für ihn: Friss, Vogel, oder stirb.
    Ein Teil von ihm bestand darauf, dass er auch als Richard Lively, Hausmeister, glücklich sein konnte. Durham war eine angenehme Stadt, seine Vermieterinnen angenehme Zeitgenossen.
    Doch ein anderer Teil von ihm sah die Sache anders.
    Dr. Frederick Starks verdiente es nicht zu sterben. Nicht für das Unrecht, das er – damals noch jung und unentschlossen und im Zweifel – fraglos begangen hatte. Selbstverständlich hätte er mehr für Claire Tyson tun können. Er hätte ihr die Hand reichen und vielleicht derjenige sein können, der ihr zu einem Leben verhalf, das es wert war, gelebt zu werden. Er konnte nicht leugnen, dass sich ihm die Möglichkeit geboten und er sie nicht ergriffen hatte. Da hatte Rumpelstilzchen Recht. Doch seine Strafe ging über sein Schuldmaß weit hinaus. Und dieser Gedanke machte Ricky wütend.
    »Ich hab sie nicht umgebracht«, sagte er, wenn auch nur im Flüsterton.
    Das Zimmer, in dem er sich befand, war ebenso ein Sarg wieein Rettungsboot. Er fragte sich, ob er je wieder Luft

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