Der Patient
holen konnte, ohne dass es nach Zweifel schmeckte. Was für eine Sicherheit hatte er denn, wenn er sich für immer versteckte? Wenn er stets und ständig damit rechnen musste, dass jeder, der irgendwo hinter einem Fenster stand, der Mann sein konnte, der ihn in die Anonymität getrieben hatte? Es war eine schreckliche Vorstellung, doch er begriff: Rumpelstilzchens Spiel würde für ihn niemals enden, selbst wenn es für den nebulösen Mr. R. zu Ende war.
Ricky würde es nicht wissen, konnte sich niemals sicher sein, niemals wirklich seine Ruhe haben, ohne dass ihn Fragen quälten.
Er musste eine Antwort finden.
Allein in seinem Zimmer griff Ricky nach den Papieren auf dem Bett. Er rollte das Gummi, das die Adoptionsdokumente zusammenhielt, so schnell von dem Bündel, dass es riss.
»In Ordnung«, sagte er ruhig, zu sich selbst und zu irgendwelchen Gespenstern, die ihm zuhören mochten, »Das Spiel fängt von vorn an.«
Im Handumdrehen hatte Ricky herausgefunden, dass das Jugendamt in New York die drei Kinder im Lauf des ersten halben Jahrs nach dem Tod ihrer Mutter hintereinander zu drei Familien in Pflege gegeben hatte, bis sie von einem Paar in New Jersey adoptiert wurden. Einem einzigen Bericht eines Sozialarbeiters war zu entnehmen, dass die Kinder schwer zu vermitteln gewesen waren; dass sie sich außer in ihrem letzten, hier nicht genannten Zuhause in jeder Konstellation als aufsässig, wütend und ungehobelt erwiesen hatten. Der Sozialarbeiter hatte, besonders für den Ältesten, eine Therapie empfohlen. Der Bericht war in einfacher, bürokratischer Sprache und in dem offensichtlichen Bestreben nach Absicherunggeschrieben, ohne irgendwelche Einzelheiten über jenen Jungen preiszugeben, der ihm als Mann das Leben zur Hölle machte. Immerhin erfuhr er, dass die Adoption über eine karitative Einrichtung der Episkopal-Diözese von New York gelaufen war. Er fand Kopien von Verzichtserklärungen hinsichtlich der Kinder, die der alte Tyson unterschrieben hatte. Ein anderes Dokument trug Daniel Collins’ Unterschrift, aus der Zeit, als er in Texas im Gefängnis war. Die Parallele entging Ricky nicht: Daniel Collins hatte die drei Kinder im Knast im Stich gelassen. Jahre später schickt ihn Rumpelstilzchen dafür mit wenig zimperlichen Methoden zum zweiten Mal in den Bau. Egal, wie der Mann, der als Kind zurückgewiesen wurde, dieses Kunststück fertig gebracht hatte: Ricky konnte unmittelbar nachempfinden, dass ihm diese Wendung eine ungemeine Befriedigung verschafft haben musste.
Bei dem Ehepaar, das die drei verlassenen Kinder zu sich nahm, handelte es sich um Howard und Martha Jackson. Es war eine Adresse in West Windsor, einer halb vorstädtischen, halb ländlichen Wohngegend wenige Meilen von Princeton, angegeben, doch ansonsten fehlte jede weitere Information über die Eltern. Sie hatten alle drei Kinder genommen, was Ricky faszinierte. Wie hatten sie es nur geschafft, zusammenzubleiben?, fragte er sich. Die Kinder waren aufgelistet, als der Junge Luke, zwölf Jahre alt; der Junge Matthew, elf, und das Mädchen Joanna, neun. Biblische Namen, registrierte Ricky. Er bezweifelte sehr, dass die Kinder diese Namen noch trugen.
Er unternahm verschiedene Computersuchen, ohne jedoch fündig zu werden. Das überraschte ihn nun doch. Er hätte gedacht, dass irgendwelche Informationen im Internet aufzutreiben waren. Er sah in den elektronischen Telefonbüchern nach, fand im Zentrum von New Jersey eine Menge Jacksons,doch keinen, der mit denen in dem dürftigen Bündel Papiere übereingestimmt hätte.
Was er hatte, war eine alte Anschrift. Und das hieß, es gab eine Tür, an die er anklopfen konnte. Offensichtlich hatte er keine andere Wahl.
Ricky dachte daran, die Priesterkleidung und den falschen Brief erneut zum Einsatz zu bringen, kam aber zu dem Schluss, dass sie ihm einmal gute Dienste geleistet hatten und besser für eine spätere Gelegenheit aufgehoben werden sollten. Stattdessen rasierte er sich so lange nicht, bis er einen ansehnlichen, scheckigen Bart bekam. Dann bestellte er übers Internet bei einer angeblichen Privatdetektei einen falschen Personalausweis. Eine weitere nächtliche Inspektion der Requisite bei der Theater-AG verhalf ihm zu einem falschen Bauch, einer kissenartigen Vorrichtung, die er sich unters T-Shirt schnallen konnte und die ihn rund vierzig, fünfzig Pfund schwerer erscheinen ließ, als er mit seiner drahtigen Figur tatsächlich war. Zu seiner Erleichterung fand er auch noch
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