Der Patient
Telefonnummer hinterlassen, wo sie im August für Sie erreichbar ist?«
»Nein, soviel ich weiß, nicht. Wir haben lediglich einen Termin für Ende des Monats vereinbart und es dabei bewenden lassen.«
Ricky dachte angestrengt nach, bevor er eine weitere Frage stellte. »Und hat Ihre Patientin vielleicht auffällige, durchdringende grüne Augen?«
Soloman schwieg. Als er sich wieder meldete, lag eine eisige Reserviertheit in seinem Ton. »Demnach kennen Sie sie also doch?«
»Nein«, sagte Ricky. »Ich habe nur geraten.«
Dann legte er auf.
Virgil
, sagte er in Gedanken.
Ricky ertappte sich dabei, wie er auf das Gemälde an der Bürowand starrte, das in den angeblichen Erinnerungen der Pseudo-Patientin oben in Boston eine so markante Rolle spielte. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, dass Dr. Soloman echt und mit Bedacht ausgewählt worden war. Ebenso wenig Zweifel hegte er daran, dass diese so schöne und so verstörte junge Frau, die sich in die Obhut des bekannten Dr. Soloman begeben hatte, nie wieder bei ihm auftauchen würde. Zumindest nicht in dem von Soloman erwarteten Zusammenhang. Ricky schüttelte den Kopf. Es gab weiß Gott nicht wenige Therapeuten, denen ihre Stellung derart zu Kopf stieg, dass sie die Aufmerksamkeit der Presse ebenso liebten wie die Ergebenheit ihrer Patienten. Sie führten sich auf, als verfügten sie über irgendwelche einzigartigen und ganz und gar magischen Einblicke in den Gang der Welt und das Treiben der Menschen, weshalb sie mit schludriger Regelmäßigkeit Meinungen und Urteile vom Stapel ließen. Ricky hegte den Verdacht, dass Soloman eher zur Sorte dieser Talkshow-Seelenklempnergehörte, die sich den Anschein von Durchblick gaben, ohne ihn sich durch harte Arbeit zu verschaffen. Es ist viel leichter, jemandem kurz zuzuhören und einen Kommentar aus dem Ärmel zu schütteln, als Tag für Tag dazusitzen und langsam durch die Schichten des Alltäglichen und Trivialen in seelische Tiefen vorzustoßen. Für die Vertreter seiner Zunft, die ihren Namen für Meinungen im Gerichtssaal oder für Zeitungsartikel hergaben, hatte er nichts als Verachtung übrig.
Das Problem war allerdings, räumte Ricky ein, dass Solomans Reputation und öffentliche Präsenz den Anschuldigungen Glaubwürdigkeit verleihen würden. Sein Name unter dem Brief verschaffte dem Machwerk ein Gewicht, das lange genug vorhalten würde, damit der Anstifter des Ganzen seine Schlinge um Rickys Hals enger ziehen konnte.
Was hast du heute gelernt?, fragte sich Ricky.
Viel, kam prompt die Antwort. Vor allem aber, dass die Netze, in denen er sich immer mehr verfing, bereits vor Monaten ausgelegt worden waren.
Noch einmal sah er auf das Gemälde, das seine Praxiswand schmückte. Sie waren hier, dachte er, lange bevor Virgil hereinspaziert ist. Hier war nichts sicher. Eine Privatsphäre gab es nicht.
Sie waren schon vor Monaten hier, und ich habe es nicht gewusst
.
Ihn überkam Wut, die ihn wie ein Schlag in die Magengrube traf, und sein erster Impuls war es, aufzustehen, das Zimmer zu durchqueren, den vom Kollegen in Boston erwähnten kleinen Holzschnitt zu packen und vom Haken zu reißen. Er nahm das Bild und schleuderte es in den Papierkorb neben dem Schreibtisch, so dass der Rahmen zerbrach und das Glas splitterte. Das Geräusch war wie ein Schuss, der durch das kleine Sprechzimmer hallte. Obszönitäten platzten aus ihmheraus, untypisch und grobschlächtig, und erfüllten den Raum wie unzählige glühende Nadeln. Er drehte sich um und packte die Kanten seines Schreibtischs, als brauche er Halt.
So schnell wie er aufwallte, verebbte der Zorn und ließ eine weitere Woge der Übelkeit zurück, die ihn überschwemmte. Ihm war schwindelig, alles drehte sich ihm vor Augen, wie es schon mal passieren kann, wenn man zu schnell aufsteht, besonders mit einer schlimmen Erkältung oder einer Grippe in den Knochen. Rickys Gefühle kamen ins Stocken. Sein Atem wurde kurz und keuchend, als hätte ihm jemand ein Seil um die Brust geschnürt, so dass er kaum Luft bekam.
Er brauchte einige Minuten, um sich zu fangen, und selbst dann fühlte er sich immer noch schwach, beinahe erschöpft.
Er sah sich weiter in seinem Sprechzimmer um, das jetzt allerdings verändert schien. Es kam ihm so vor, als hätten all die Dinge, mit denen er sein Leben schmückte, eine unheilvolle Bedeutung gewonnen. Er glaubte, dass er ab jetzt den Dingen nicht mehr trauen konnte, die er direkt vor der Nase hatte. Er fragte sich, was Virgil dem
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