Der Patient
Polizeidienststelle fiel es ihm immer noch schwer, Zimmermans Tod zu akzeptieren. Er schien irgendwo im Surrealen angesiedelt. Er starrte auf den Abschiedsbrief und stellte fest, dass er allein mit Namen genannt war. Auch das Fehlen einer Unterschrift fiel ihm auf. Stattdessen hatte derjenige, der die Zeilen geschrieben hatte, Zimmermans Unterschrift getippt. Oder aber Zimmerman selbst hatte ihn getippt, falls der Brief doch von ihm stammte.
In seinem Kopf drehte sich alles.
Der kurze Siegerstolz darüber, dass er den Anwalt ausgetrickst hatte, wich einem flauen Gefühl, das schon an Übelkeit grenzte und ihm schwer im Magen lag, auch wenn es, wieRicky vermutete, psychosomatischer Herkunft war. Im Fahrstuhl auf dem Weg zu seinem Zuhause hatte er das Gefühl, als lasteten ihm Bleigewichte auf den Schultern und zerrten ihm an den Füßen. Die erste Spur von Selbstmitleid schlich sich in seine Gedanken, die Frage
Wieso gerade ich?
heftete sich an jeden seiner bleiernen Schritte. Als er schließlich vor seiner Praxis stand, war er erschöpft.
Er warf sich auf seinen Schreibtischstuhl und nahm den Brief von der Psychoanalytic Society zur Hand. Im Geist strich er den Namen des Anwalts aus, auch wenn er nicht so naiv war zu glauben, er würde nicht wieder von Mr. Merlin hören, wer immer er auch war. Auch der Name des Bostoner Therapeuten, zu dem das angebliche Opfer ging, stand in dem Brief, und Ricky begriff, dass dies seine nächste Anlaufstelle war. Für einen Moment wollte er den Namen ignorieren, einfach nicht tun, was von ihm erwartet wurde, doch dann machte er sich klar, dass es einem Schuldeingeständnis glich, wenn er nicht energisch das Gegenteil beteuerte. Er kam um den Anruf nicht herum, wie fingiert und nutzlos er auch sein mochte.
Immer noch mit dieser Übelkeit im Magen griff Ricky nach dem Telefon und wählte die Nummer des Therapeuten. Es klingelte einmal, dann schaltete sich, wie er schon halb erwartet hatte, der Anrufbeantworter ein. »Hier spricht Dr. Martin Soloman. Ich kann Ihren Anruf im Moment nicht persönlich entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und eine kurze Nachricht, und ich rufe Sie umgehend zurück.« Wenigstens ist er noch nicht in den Urlaub abgereist, dachte Ricky.
»Dr. Soloman«, sagte Ricky in energischem Ton, wie ein Schauspieler, der versucht, eine gewisse Wut und Empörung in seine Stimme zu legen, »Dr. Frederick Starks, Manhattan,am Apparat. Ich werde von einer Ihrer Patientinnen schwerwiegenden Fehlverhaltens beschuldigt. Ich möchte Sie hiermit davon in Kenntnis setzen, dass diese Behauptungen vollkommen aus der Luft gegriffen sind. Sie sind frei erfunden und entbehren jeder Grundlage. Danke.«
Dann legte er auf. Die Eindeutigkeit seiner Nachricht machte ihm wieder ein bisschen Mut. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten, dachte er, allenfalls zehn, bis er sich meldet.
Und damit lag er richtig. Nach sieben Minuten klingelte das Telefon.
Er meldete sich mit fester, tiefer Stimme. »Dr. Starks am Apparat.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung schien erst einmal Luft zu holen, bevor er sagte: »Herr Kollege, hier spricht Martin Soloman. Ich habe Ihre Nachricht bekommen und hielt es für das Klügste, sofort zurückzurufen.«
Ricky wahrte eine Weile beredtes Schweigen, bevor er fragte, »Wer ist diese Patientin, die mich einer so verwerflichen Handlungsweise bezichtigt?«
Ihm schlug ebenso bedeutsame Stille entgegen, bevor Soloman erwiderte: »Vorerst bin ich nicht befugt, Ihnen ihren Namen preiszugeben. Sie hat mich wissen lassen, sie würde sich zur Verfügung halten, sobald sich der Untersuchungsausschuss der autorisierten Ärztekammer mit mir in Verbindung setzt. Die Beschwerde überhaupt erst einmal bei der New York Psychoanalytic Society vorzubringen, war ein wichtiger Schritt auf ihrem Weg zur Genesung. Sie muss behutsam vorgehen. Aber, Herr Kollege, das klingt mir doch recht unwahrscheinlich. Sie wissen zweifellos, wen Sie vor so kurzer Zeit behandelt haben? Und angesichts der Einzelheiten, die sie mir im Lauf des letzten halben Jahres preisgegeben hat, erscheinen mir ihre Aussagen ganz und gar authentisch.«
»Einzelheiten?«, fragte Ricky. »Was für Einzelheiten?«
Der Kollege zögerte. »Nun ja, ich weiß nicht, wieviel ich …«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich glaube keinen Moment, dass diese Person existiert«, unterbrach Ricky ihn barsch.
»Ich kann Ihnen versichern, dass sie sehr wohl existiert. Und ihre Leiden
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