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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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wollte.
    Rickys Hand zitterte ein wenig, als er wieder auf die Play-Taste drückte. Bei der nächsten Nachricht war nur das Schluchzen einer Frau zu hören. Unglückseligerweise erkannte er die Stimme und wusste, dass sie einer weiteren Langzeitpatientin gehörte. Auch sie hatte, vermutete er, eine Kopie des Briefs erhalten. Auch die letzten beiden Nachrichten kamen von Patienten. Einer von ihnen, ein prominenter Choreograf für Broadway-Inszenierungen, zischte geradezu vor mühsam beherrschter Wut. Die andere, eine recht bekannte Porträtfotografin, schien mindestens so verwirrt wie außer sich.
    Ihn packte die Verzweiflung. Vielleicht zum ersten Mal in seiner beruflichen Laufbahn wusste er nicht, was er seinen eigenen Patienten sagen sollte. Die anderen, die noch nicht angerufen hatten, waren, so befürchtete er, nur noch nicht am Briefkasten gewesen.
     
    Zu den wesentlichen Elementen der Psychoanalyse gehört die einzigartige Beziehung zwischen Patient und Therapeut, bei der der Patient jede intime Einzelheit seines Lebens vor einer Person ausbreitet, die das nicht erwidert und sogar auf die provokantesten Mitteilungen nur selten reagiert. Bei dem Kinderspiel »Wahrheit oder Pflicht« wird das Vertrauen durch geteiltes Risiko hergestellt. Ich sag dir etwas, und du sagst mir etwas. Du zeigst mir deins, ich zeig dir meins. Die Psychoanalyse stellt dieses Verhältnis durch ihre grandiose Einseitigkeit vollkommen auf den Kopf. Ricky wusste, dass die Frage, wer er war, was er dachte und fühlte, wie er reagierte, unverzichtbar zur Dynamik des großen Übertragungsprozessesgehörte, der sich in seiner Praxis abspielte und bei dem er, so wie er da hinter dem Kopf seiner auf der Couch ausgestreckten Patienten saß, für jeden von ihnen etwas anderes symbolisierte, etwas Beunruhigendes, so dass er sie, indem er jeweils eine bestimmte Rolle übernahm, durch ihre Probleme geleiten konnte. Sein Schweigen stand aus psychologischer Sicht für die Mutter eines Patienten, den Vater eines anderen, den Chef eines dritten. Sein Schweigen stand für Liebe und Hass, für Wut und Trauer. Es konnte Verlust und Zurückweisung bedeuten. In gewissem Sinne war der Psychoanalytiker nach seinem Verständnis ein Chamäleon, das auf jeder Berührungsfläche die Farbe wechselt.
    Er reagierte auf keinen Anruf seiner Patienten, und bis es Abend war, hatten sie sich alle gemeldet. Der Redakteur von der
Times
hatte Recht, dachte er. Wir leben in einer Gesellschaft, die den Begriff des Dementis vollkommen ausgehöhlt hat. Wer heutzutage eine Beschuldigung von sich wies, setzte sich automatisch dem Verdacht aus, nur zu einer Notlüge zu greifen, die man immer noch widerrufen und späteren Erfordernissen anpassen kann, wenn man eine akzeptable Wahrheit ausgehandelt hat.
    Mehrere Stunden täglich, zusammengenommen Wochen, Monate und Jahre, die er mit diesen Patienten verbracht hatte, waren durch eine einzige gut fingierte Lüge brutal zunichte gemacht. Er wusste nicht, was er seinen Patienten sagen, ob er überhaupt antworten sollte. Der Kliniker in ihm begriff, dass die Reaktion eines jeden dieser Patienten auf die Anschuldigungen therapeutische Erkenntnisse enthielten, die jedoch zu nichts führen würden.
    Zum Abendessen machte er sich an diesem Tag Hühnersuppe aus der Dose.
    Während er sich die heiße Brühe in den Mund löffelte, fragteer sich, ob ein wenig von den Heilkräften, die man diesem Gebräu nachsagte, ihm direkt ins Herz strömen würde.
    Ihm wurde klar, dass er immer noch keinen Schlachtplan, keine systematische Vorgehensweise entwickelt hatte. Eine Diagnose, der die Behandlung folgen konnte. Bis jetzt war Rumpelstilzchen wie eine Art heimtückisches Krebsgeschwür erschienen, das ihn an mehreren Stellen befallen hatte und seine Fassade zum Bröckeln brachte. Eine schlüssige Strategie stand noch aus. Das Problem war nur, dass dies seiner Ausbildung zuwider lief. Wäre er Onkologe gewesen wie die Männer, die seine Frau ohne Erfolg behandelt hatten, oder auch nur ein Zahnarzt, der den maroden Zahn nicht nur sieht, sondern auch zieht, dann sähe die Sache anders aus. Doch Rickys Ausbildung war entschieden anderer Art. Ein Psychoanalytiker erkennt zwar gewisse klar umrissene Charakteristika und Syndrome, überlässt die konkrete Gestaltung seiner Behandlung aber letztlich dem Patienten selbst, wenn auch unter den schlichten Rahmenbedingungen der Analyse. Und so stand Ricky gegenüber Rumpelstilzchen und seiner Bedrohung genau das

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