Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
«brennenden» Ruhrgebiet, wo sich die Arbeiter der Schließung ihrer Stahlwerke widersetzten.
In den 1990er und 2000er Jahren veränderte sich das Muster der Konflikte. Alte Industrien wie der Kohlebergbau verschwanden fast ganz von der europäischen Landkarte, oder sie modernisierten sich auf schlankerer Basis wie Stahlindustrie und Schiffsbau, die beide ganz unverhofft von der expandierenden Weltwirtschaft profitierten. Junge Industrien dagegen wie die Produktion von Computern, Mikrochips und Mobiltelefonen waren in hohem Maße von den Investitionen multinationaler Konzerne abhängig. Und wenn Siemens oder BenQ, Nokia oder Sony ihre Investitionsentscheidungen revidierten und ganze Produktionsstätten schlossen, so glich dies einem Frontalangriff auf die individuelle Existenz der betroffenen Arbeitnehmer. Der Protest blieb nicht aus, stets fanden sich Politiker, die sich solidarisierten. Eine wohlwollende Presse berichtete empathisch, die Öffentlichkeit war betroffen. Am Ausgang des Kräftemessens änderte dies freilich nichts.
Hier zeigten sich gleichsam neue alte Formen der Kapitalabhängigkeit, deren Eishauch das westliche Europa der Jahrhundertwende – nach fast vierzig goldenen Jahren – wieder einholte. 2008/09 steigerte sich das Szenario in der Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. In den europäischen Werken des bankrotten amerikanischen Giganten General Motors verbreitete sich die Angst vor der Schließung, aber auch andere Branchen waren bedroht.
Besonders militant entwickelte sich der Protest in Frankreich. Als Sony im März 2009 eine Fabrik für Kassetten bei Bordeaux schließen wollte, setzten die dortigen Arbeiter kurzerhand den Geschäftsführer fest und erzwangen bessere Kündigungsbedingungen und eine Abfindung.[ 82 ] In der Folge machte dieses Verfahren als sogenanntes
Bossnapping
in Frankreich geradezu Schule.
Tatsächlich äußerten sich Widerstandskraft und
bargaining power
der Industriearbeiter meist nur noch im lokalen Rahmen. Ihre Aktionen, auch die der Gewerkschaften und Betriebsräte, zielten letztlich nur noch auf dieVerhinderung des Schlimmsten oder rein palliative Maßnahmen wie Sozialpläne und Abfindungen. So hart und zum Teil auch gewaltsam die Auseinandersetzungen auch sein mochten, an der Bewegungsrichtung der Entwicklung änderten sie nichts. Als Klasse «für sich» war die Industriearbeiterschaft in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts wohl endgültig zu Grabe getragen worden. Und es war mehr als fraglich, ob die Globalisierungsstrategie der großen internationalen Organisationen – Fortbildung für die Wissensgesellschaft, Flexibilisierung für den Markt – den hier Betroffenen irgendeine Perspektive zu geben vermochte.
Wie aber verhielt es sich mit den Arbeitnehmern im jüngeren und immer weiter expandierenden Dienstleistungssektor? In dem Maße, in dem sich die Länder Europas zu modernen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaften fortentwickelten und zugleich zentrale Züge der amerikanischen Konsumgesellschaft übernahmen, glichen sich auch die Bedingungen ihrer Beschäftigten einander an. Tatsächlich läßt sich fragen, ob nicht der Übergang zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft zugleich neue – nachproletarische – «Klassen» schuf: eine neue Form internationaler Dienstleistungsklassen. Einerseits betraf dies die wachsende Zahl mittlerer und gehobener Angestellter, die bei Banken und Versicherungen, Computer- und Softwarefirmen, in der Verwaltung multinationaler Konzerne oder in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen arbeiteten. Andererseits betraf das die ebenfalls wachsende Zahl derer, deren
cheap labour
diese neue Gesellschaftsform am Laufen hielt: in internationalen Fast Food- und Coffee Shop-Ketten wie McDonald’s und Starbucks,[ 83 ] in den großen Handelskonzernen und Transportunternehmen, schließlich auch in öffentlichen oder privaten Betreuungs-, Pflege- und Reinigungsdiensten.
Hier entstand ein gigantisches Arbeitskräftepotential, dessen Lebensumstände sich in neuer Form und entlang der Logik des globalisierungsgetriebenen Strukturwandels anglichen. In einem nie zuvor dagewesenen Ausmaß wurde es von weiblicher Arbeitskraft gespeist. Weibliche Erwerbsarbeit war hoch konzentriert in Dienstleistungssektoren wie Einzelhandel, nachgeordneter Büroarbeit und in Pflegeeinrichtungen. Insbesondere in Bezug auf die Pflegetätigkeit – Pflege von Kindern, Behinderten oder Älteren – ließ sich feststellen: Was früher
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