Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
Rezessionen abgegrenzt werden konnte. Unterlag nicht auch das Dotcom-Gewerbe offenkundig den ehernen Gesetzen der Ökonomie? Überdies paßten sich nun auch die Unternehmen der
old economy
den neuen technischen Gegebenheiten an und stellten sich auf die Notwendigkeit einer verstärkten Internet-Präsenz ein. Nicht wenige erweiterten ihr Spektrum durch den gezielten Aufkauf gestrandeter
Startups.
In jedem Fall entwickelten nun alle maßgeblichen europäischen Konzerne eigene Internet-Strategien, die sich komplementär zu ihren bisherigen konventionellen Angeboten verhielten. Aus der Euphorie der
New Economy
erwuchs das nüchterne Abwägen ökonomischer Kalküle im Zeitalter beschleunigten technischen Wandels. Auch dies war eine Anpassung an die global veränderte und beschleunigte Wirtschaft.
9. Angleichung der Lebensformen und kulturelle Diversität
Die
New Economy
brachte in zugespitzter, phasenweise geradezu karnevalistischer Weise wesentliche Merkmale der jüngsten europäischen Geschichte zum Ausdruck. So erlaubten die technologische Revolution und der Wandel der internationalen Finanzmärkte gelegentlich den Erwerb plötzlichen Reichtums. Dies unterstrich neue soziale Gegensätze, die ältere soziale Ungleichheiten überlagerten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus spitzte sich das innereuropäische Wohlstandsgefälle geradezu dramatisch zu, und es verschwand nicht binnen weniger Jahre. Die Bewohner Bulgariens verfügten zum Beispiel 1995 nur über zehn Prozent des realen durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in der EU; und im Jahre 2008 waren es auch nicht mehr als 13 Prozent. Ermutigender waren die Ziffern für die Visegrád-Staaten, die bis 2008 immerhin 38 (Tschechische Republik) bzw. 31 Prozent (Polen und Ungarn) des EU-Durchschnitts erreichten. Allerdings wäre es irreführend, einen allzu tiefen Gegensatz zwischen einem ökonomisch «rückständigen» postkommunistischen Europa und dem «reichen» Westeuropa zu konstruieren. Nicht zuletzt blieben ja auch die beträchtlichenUnterschiede zwischen dem nordwestlichen und südlichen Europa bestehen, und überdies vertiefte sich teilweise noch die soziale Ungleichheit innerhalb der entwickelten westeuropäischen Gesellschaften.
Zugleich freilich trugen die fortschreitende Europäisierung und die regionale Förderpolitik der Europäischen Union dazu bei, daß sich die ökonomischen Lebensbedingungen in ganz Europa seit 1990 erträglich gestalteten und ein zwar moderater, aber doch spürbarer Konvergenzprozeß in Gang gesetzt wurde. Dabei genügt es nicht, auf Lebensstandard und Einkommensverteilung zu blicken. Die entscheidenden Triebkräfte der fortschreitenden Angleichung resultierten primär aus sozialkulturellen Gemeinsamkeiten, die den Alltag und die Lebensläufe der Menschen in ganz Europa prägten. Hierzu gehörten vor allem die Einstellungen zu Familie und Geschlechterbeziehungen, die zunehmende Orientierung am Konsum sowie die gesteigerte Mobilität, die den europäischen Raum schrumpfen ließ. Und zu den Paradoxien der jüngsten europäischen Geschichte gehört, daß sich die Lebensformen trotz der fortbestehenden Ungleichheiten tendenziell anglichen.
Familien, Geschlechter, Generationen
Schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich in Europa die Tendenz zu deutlich niedrigeren Geburtenraten durchgesetzt. Zu Recht hat man diesen historischen Prozeß als «Europas zweite demographische Transition» bezeichnet.[ 88 ] Nach dem «ersten demographischen Übergang» am Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte der zweite Übergang zunächst in den westeuropäischen Gesellschaften seit den 1970er Jahren. Beide Übergänge spiegelten die Entwicklung eines höheren Lebensstandards ebenso wider wie die Verbesserung der Wohnverhältnisse und vor allem die veränderte gesellschaftliche Rolle der Frauen.
Neben dem spürbaren Absinken der Geburtenraten war der zweite demographische Übergang seit den 1970er Jahren durch einige spezifische, statistisch klar zu fassende Trends gekennzeichnet. Während die Zahl der Eheschließungen sank, stieg das Erstheiratsalter der Frauen ebenso wie die Zahl der Ehescheidungen. Zugleich konstatierte man einen Anstieg der unehelichen Geburten sowie die wachsende Zahl von Alleinerziehenden. Die Veränderung der Wohnverhältnisse schließlich schlug sich in der klaren Tendenz zu kleineren Haushalten nieder.
Bis 1989 charakterisierte die kommunistischen Gesellschaften eine im Vergleich zum Westen noch etwas höhere
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