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Der Preis des Schweigens

Der Preis des Schweigens

Titel: Der Preis des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beverley Jones
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war seit meiner Geburt im Prinzip ein Ausbund an Ruhe und Gelassenheit gewesen. »Unbekümmert« hatte mich meine Mutter genannt, als ich ein Kleinkind mit rosigen Wangen und großen blauen Augen gewesen war. Während andere Zweijährige ihre Mütter zur Verzweiflung brachten, saß die kleine Jennifer zufrieden mit einem Stoffbuch auf dem Teppich und bestaunte stundenlang freundlich blickende Bauernhoftiere. Mit sieben Jahren erhielt ich von meiner Mutter das Prädikat »friedlich«, und nachdem ich ohne nennenswerte Probleme die Pubertät durchlaufen hatte, galt ich als »vernünftig«.
    Diese lobend gemeinten Adjektive waren absolut zutreffend und forderten mich auch nicht dazu heraus, sie trotzig zu widerlegen. Mir war es schlicht zu peinlich und zu würdelos, hysterisch zu toben und herumzuschreien, wie es die anderen Mädchen taten. Ich verstand meine Mitschülerinnen nicht, die sich ständig zankten, heimlich miteinander tuschelten und ihren Feindinnen eisige Blicke zuwarfen. Später an der Uni ging es ebenso weiter, und auch meine Arbeitskolleginnen schienen einen Großteil ihrer Zeit damit zu verbringen, sich aus unglücklicher Liebe in der Toilette die Augen auszuheulen, oder sich gegenseitig am Fotokopierer die kalte Schulter zu zeigen, weil die eine angeblich einen verächtlichen Blick auf den Hintern der anderen geworfen hatte.
    Vielleicht hatte ich einfach Glück gehabt, weil ich mein Leben lang von ausgeglichenen Menschen umgeben gewesen war, die »es gut mit mir meinten« und die »das Herz am rechten Fleck« hatten. Meine Familie besteht ausschließlich aus Organisatoren, nicht aus Aggressoren – wir sind praktisch, freundlich, unkompliziert und nur schwer aus der Ruhe zu bringen. Daher war ich immer der Ansicht gewesen, dass sich Probleme grundsätzlich vermeiden ließen, indem man erst nachdachte, bevor man handelte, und, wenn man doch einmal in Schwierigkeiten geriet, mit Logik und Bedacht vorging und den eigenen Standpunkt ruhig und ausführlich erklärte.
    Natürlich ärgerte auch ich mich manchmal und hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber in solchen Momenten griff ich auf eine Methode zurück, die meine Mutter wie ein Mantra zu wiederholen pflegte: Einfach bis zehn zählen und dann noch einmal in Ruhe darüber nachdenken. Dieser Leitsatz leistete mir im Alltag immer wieder gute Dienste, und selbst wenn es manchmal ein wenig brodelte in meinem Inneren, blieb meine Oberfläche glatt wie die See an einem windstillen Tag, während ich dachte: Was die für einen Aufstand machen! Oder: Was soll das Theater? Also wirklich!
    Die letzten achtundzwanzigeinhalb Jahre hatten mich also in keiner Weise auf meine Reaktion an diesem scheinbar normalen Oktoberfreitag vorbereitet.
    Der Tag, an dem ich zum Hurrikan Jennifer wurde, hatte harmlos angefangen. Dan und ich hatten uns den Freitag freigenommen, um übers Wochenende zu verreisen, und gegen elf Uhr morgens saß ich angezogen im Wohnzimmer und las Zeitung, während ich meine zweite Tasse Tee des Tages trank und mir mein übliches ballaststoffreiches Frühstück aus Naturjoghurt, Bioaprikosen und kleingeschnittener Banane schmecken ließ. Sonnenstrahlen fielen durch unser großes Erkerfenster ins Zimmer. Es war kühles, trockenes Wetter vorhergesagt, und das galt auch für unsere Beziehung.
    Am Vorabend hatten Dan und ich eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt, aber er vermied es geflissentlich, sie zu erwähnen. Stattdessen sprach er über das Wetter und überlegte laut, ob er einen dickeren Pullover einpacken sollte, für den Fall, dass der Wind am Nachmittag auffrischte.
    Ich wusste natürlich, dass etwas nicht stimmte. Er wusste ebenfalls, dass ich es wusste, wollte es aber nicht wahrhaben. Die gedämpften nächtlichen Telefongespräche, wenn er glaubte, ich würde schlafen. Die plötzliche »wichtige Konferenz« in London. Eine Quittung für Blumen, die ich nie bekommen hatte.
    Natürlich hatte er immer eine plausible Erklärung parat, wenn ich ihm Fragen stellte, und konnte meine Zweifel mit logischen Argumenten zerstreuen. Aber ich war nicht dumm und ließ mich nicht so einfach an der Nase herumführen. Also hatte ich vor, ihn bei nächster Gelegenheit erneut darauf anzusprechen, aber wenn es eins gab, was Dan auf die Barrikaden brachte, dann ein Überfall aus dem Hinterhalt beim Frühstück. Wenn ich ihn noch vor seinem ersten Kaffee in die Enge trieb, erreichte ich damit nur, dass er davonstürmte und sich irgendwo verkroch. Dann

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