Der Preis des Schweigens
verhaftet, und es tauchten keine Fingerabdrücke auf. Auch die Frau auf dem Phantombild wurde nicht von weiteren Zeugen erkannt, zumal Anne Nolan vom Chronicle zugab, dass sie mit ihrer schwarzen Kameratasche auf dem Gelände herumgeschnüffelt hatte. Dans LED-Taschenlampe liegt immer noch auf ihrem Regalbrett in der Asservatenkammer, wo die Tüte jeden Tag staubiger wird. Bald wird sie vollkommen hinter neueren von der Kripo sichergestellten Beweisen verschwunden sein, bis man sie irgendwann ganz vergessen wird.
Ich publizierte insgesamt drei öffentliche Aufrufe bezüglich des Verschwindens von Paul Mathry, aber auch jetzt, ein Jahr später, hat ihn niemand gesehen.
Seinen mysteriösen Reisebegleiter haben wir ebenfalls nicht gefunden.
Viel öfter als gedacht ziehe ich unser in schwarzes Wildleder gebundenes Hochzeitsalbum aus dem Regal im Arbeitszimmer und blättere zufrieden die glänzenden Fotos durch. Dan und ich wirken unendlich glücklich. Er sieht schneidig und adrett aus in seinem dunklen Anzug, und ich elegant und ein wenig rätselhaft. Ein strahlendes, respektables Paar. Das Foto von uns, wie wir neben der knorrigen Eiche in der Sonne stehen, drückt genau das aus, was es ausdrücken soll: Mr und Mrs Collins, endlich glücklich verheiratet.
Der Mann an meiner Seite mag nicht ganz derselbe sein, in den ich mich als Studentin verliebt habe, aber er ist genau der Ehemann, den ich mir gewünscht habe und den ich liebe und schätze. Auch die Frau auf dem Foto ist nicht das Mädchen, das er damals kennengelernt hat, oder die junge Frau, um deren Hand er ein paar Jahre später angehalten hat. Auch nicht die Verlobte, die verrückt vor Wut in ihrem Auto davongefahren ist und sich in ein kleines Luxushotel an der Küste geflüchtet hat. Diese Jennifer ist irgendwo entlang der windgepeitschten Landstraße nach Gower verschwunden. Vielleicht irrt sie immer noch dort herum, wo sich Meer und Himmel und Land treffen, und wartet. Aber Dan liebt und bewundert die Frau auf dem Hochzeitsfoto genauso sehr – sogar noch mehr, glaube ich.
Auch Suzy und Justin sehen glücklich aus auf ihrem gemeinsamen Foto. Jedes Mal wenn ich sie aus ihrem Versteck in meinem Gedichtband von Robert Frost ziehe und neben unser Hochzeitsfoto lege, lächeln sie mir entgegen. Aber ein Mensch besteht aus so viel mehr als dem Lächeln auf seinem Gesicht. Wer glaubt, auf den ersten Blick Raubtier von Beute unterscheiden zu können, irrt gewaltig.
Wenn ich mir dieser Wahrheit bewusst gewesen wäre, wäre ich vielleicht nicht mit einem völlig Fremden im Bett gelandet und gezwungen gewesen, zu tun, was ich getan habe. Für Justin Reynolds, wer auch immer er war, und Paul Mathry, wo auch immer er ist, gilt dasselbe. Hätten sie diesen Umstand beachtet, besäßen sie vielleicht noch alle ihre Finger oder – wer weiß – ihr Leben. Manchmal besteht der Schafspelz, den ein Wolf wählt, aus ausgeblichenen Haaren, Flip-Flops und Lederarmbändern, manchmal aus einem dunkelblonden Bob, Businesskostüm und einer seriösen, angenehmen Telefonstimme. Hinter dem Lächeln beider kann sich ein Raubtiergebiss verbergen. Man kann nie vorsichtig genug sein.
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