Der Preis des Schweigens
Paare, die sich in den tränenreichen Stunden seit meiner Ankunft wie aus dem Boden schießende Pilze vermehrt hatten. Mit ihren glänzenden Haaren und ihren teuren, aber lässigen Freizeitpullovern bildeten sie im Hotelrestaurant und im kerzenbeleuchteten Schmugglernest ein Heer aus wohlhabenden, glücklichen Liebespaaren. Selbst die hoteleigenen Katzen, zwei riesige rote Exemplare, hatten sich auf der Fensterbank zärtlich aneinandergekuschelt.
Ein bisschen zu viel Idyll für eine einsame Frau, dachte ich traurig, auch wenn mir klar war, dass es hier für ein verliebtes Paar der Himmel auf Erden sein musste. Die Nacht und der Wein und das knisternde Feuer verstärkten die windumtoste Romantik dieses Ortes noch, und die späte Stunde schien wie gemacht für Vertraulichkeiten und zufällige Begegnungen.
Ich hatte den Roman Gasthaus Jamaika von Daphne du Maurier mit ins Schmugglernest genommen, den ich neben ein paar anderen säbelrasselnden Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, dem obligatorischen Lyrikband von Dylan Thomas und einer Sammlung walisischer Volkssagen in einem diskret in die Fensternische eingebauten Bücherregal auf meiner Suite entdeckt hatte. Inzwischen war ich bei meinem vierten Glas Merlot angekommen und erwartete regelrecht, dass ein regennasser Fremder durch die Tür der Bar trat, um uns Landratten furchterregende Geschichten vom Leben auf See zu erzählen. Er wäre mir hochwillkommen gewesen, wie alles, was mich die Realität vergessen ließ, den Umstand, dass ich allein hier war, und die Gründe dafür. Statt auf die Bremse zu treten und langsamer zu trinken, flüchtete ich mich in den Alkohol.
Und dann sah ich ihn. Er saß eingezwängt in einer Nische am Ende der Theke und war seinerseits in einen Roman vertieft, ohne der Tür oder den eng umschlungenen Pärchen in ihren Sitzecken auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen. Den Titel seines Buchs konnte ich nicht entziffern, aber der Einband und das Schriftbild verrieten, dass es sich um ein richtiges Buch handelte und nicht um einen reißerischen Kriegsroman im Stil von Hinter feindlichen Linien oder eine Sportlerbiographie. Hin und wieder riskierte ich einen flüchtigen Blick auf den Fremden, aber er sah nicht von seiner Lektüre auf, sondern schob sich nur hin und wieder die dunkelblonden halblangen Haare aus der Stirn.
Er wirkte lässig und entspannt, wie aus der Zeit gefallen im antiquierten Ambiente des Schmugglernests. Zu seiner ausgewaschenen Jeans trug er ein weites Surfer-T-Shirt und lederne Flip-Flops, und die Haut an seinen Füßen war noch tiefer gebräunt als der Rest seines Körpers. Um seine Augen zog sich ein Kranz aus Sonnenfältchen, die einen den kühlen walisischen Oktober vergessen ließen, und er nippte an einem echten einheimischen Ale – keinem Stella aus Belgien und auch keinem Cider. Zusammen mit dem Buch und seinem Aussehen war diese Getränkewahl ein vielversprechendes Zeichen. Ich hatte möglicherweise einen gebildeten Mann vor mir, einen Mann, der Geschmack hatte und vielseitig war, aber nicht oberflächlich.
Einmal ertappte er mich dabei, wie ich ihn anstarrte. Ich spürte, wie ich errötete. Für ungefähr vier Sekunden – so lange begegneten sich unsere Blicke – vergaß ich Dan vollkommen, und das erschien mir in diesem Moment durchaus wünschenswert. Wenn ich mir Mühe gab, konnte ich die vier Sekunden beim nächsten Mal vielleicht auf sechs ausdehnen, und dann auf zwölf, und wer weiß, wie lange noch. Mir gefielen seine Locken.
Als er meinen bewundernden Blick bemerkte, lächelte er freundlich, wandte sich aber rasch wieder seinem Buch zu. Ich legte meinen Roman neben mir auf die Sitzbank und zog einen Gedichtband von Robert Frost aus meiner Handtasche, den ich immer dabeihabe. Ich schlug ihn auf und versuchte, ihn beim Lesen so zu halten, dass der Fremde den Titel erkennen konnte. Er sollte mich nicht für eine durchgeknallte Leserin erotisch angehauchter historischer Literatur halten. Dafür war ich viel zu klug und vernünftig. Während ich mir Mühe gab, möglichst würdevoll und wohlüberlegt, gebildet und interessant zu wirken, wurde ich von Minute zu Minute beschwipster.
Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wünschte ich mir, dass er noch einmal hersah, und andererseits fürchtete ich mich davor, aus Angst, er könnte ein Gespräch darüber anfangen, dass wir die einzigen Singles in der romantischsten Bar der Welt waren und nur unsere Bücher hatten, um unsere einsamen Herzen
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