Der Preis des Verrats (German Edition)
Reid war abwechselnd verletzt, wütend, fühlte sich sogar verantwortlich für das Unglück, denn er hatte Mitchs Krankheit nicht zu erkennen vermocht. Und so nannte er es auch. Eine Krankheit. Es gab einfach keine andere Erklärung für die Abwärtsspirale seines Partners.
Ich wollte sehen, wie es war, wollte verstehen, was ihn dazu getrieben hat. Ich dachte, irgendetwas daran würde sich gut anfühlen. Das tat es auch eine Weile lang .
Ich bin nicht besser als er .
Reid dachte oft an den Abschiedsbrief, den David Hunter hinterlassen hatte. Er war sich bewusst, dass Mitch den Mann genötigt hatte, den Brief zu schreiben. Vermutlich hatte er ihm den Text diktiert, Wort für Wort. Reid war überzeugt, dass der Inhalt irgendeinem noch zurechnungsfähigen Winkel von Mitchs Gehirn entsprungen war. Dort, wo Scham und Reue empfunden wurden. In dem Brief ging es nicht um Hunter, sondern um Mitch.
Letztendlich hatte sein Partner Selbstmord begangen, selbst wenn es Reid gewesen war, der den Abzug gedrückt hatte. Er schaute zu Caitlyn und spürte ein Ziehen im Herzen. Mitch hatte ihm keine andere Wahl gelassen.
„Hast du zumindest deine Mutter heute zu sehen bekommen?“, fragte er.
Geistesabwesend berührte sie einen braunen Tannenzapfen, der noch an einem Ast des Baums hing. Der ganze Raum hatte inzwischen einen würzigen Tannenduft angenommen. „Bevor ich Joshua besucht habe. Sie hat heute nicht viel gesagt.“
Reid entging die leichte Melancholie in ihrer Stimme nicht. Er stellte sich hinter sie und streichelte ihre Schultern. Caitlyn hatte so viel verloren. Familie. Freunde. Vor zwei Wochen war Rob Treadwell vom Büro des Bezirksstaatsanwalts von Loudoun County angeklagt worden. Er wurde beschuldigt, illegale Videoaufnahmen gemacht zu haben. Auf dem Rasen im Vorgarten des Treadwellschen Hauses stand jetzt das Schild eines Immobilienmaklers. Es ging das Gerücht um, Sophie hätte ihren Mann verlassen und wäre zurück in ihre alte Heimat gezogen, nach Upstate New York, eine einsame Gegend im Norden des Staates. Caitlyn hatte nichts mehr von ihr gehört.
„Die Frau, die mich in jener Nacht angerufen hat, wegen Mom“, erinnerte sie sich und drehte sich dabei zu ihm um, „dievorgab, eine Krankenschwester zu sein, damit ich ins Krankenhaus käme? Wer, glaubst du, ist das gewesen?“
„Vielleicht jemand, mit dem sich Mitch getroffen hat“, vermutete Reid. „Wahrscheinlich hat er ihr gesagt, sie würde bei einer Art verdeckten Ermittlung helfen, um einen Verdächtigen zu fassen.“
„Glaubst du, sie könnte als eines seiner Opfer geendet haben? Jemand, von dem wir bisher noch nichts wissen?“
Es war ein ernüchternder Gedanke. „Ich hoffe nicht.“
Caitlyn bemerkte den Laptop erst, als das Gerät in den Bildschirmschonermodus umschaltete. Es stand auf dem Couchtisch aus Walnussholz, eingebettet zwischen einem Becher aus Steingut und einem Stapel Akten von den Ermittlungen im Nachahmerfall. Reid hatte die Papiere gerade durchgesehen, weil er nach einem Anzeichen für Mitchs psychischen Verfall gesucht hatte, das ihm vielleicht entgangen war.
„Du hast heute gearbeitet?“, fragte sie.
„Nur ein paar E-Mails gecheckt.“ Er wollte es ihr sagen, sie, wie er hoffte, in seine Entscheidung einbeziehen. „Special Agent in Charge Johnston hat mich kontaktiert. Ich soll einen Aufsatz für die FBI-Ausbildungsakademie in Quantico schreiben. Über die Ermittlungen gegen den Capital Killer. Auch über den Nachahmerfall und dass ein FBI-Agent hinter den Morden gesteckt hat, soll ich schreiben. Johnston denkt, es könnte eine brauchbare psychologische Studie werden über den Druck, der in diesem Job herrscht, und wie es tatsächlich ist, wenn man sich täglich mit gewalttätigem kriminellen Verhalten beschäftigt. Wenn der Aufsatz gut wird, könnte ich vielleicht ein Seminar in Quantico halten.“
„Was willst du tun?“
„Den Aufsatz zu schreiben könnte eine Art Selbsttherapie sein. Und Mitch … ihn werden wir für eine ganze Weile untersuchen.“ Seufzend dachte Reid an das berühmte Nietzsche-Zitat, dass, wer mit Ungeheuern kämpft, aufpassen muss, nicht selbst zum Ungeheuer zu werden.
„Ich möchte einfach nicht, dass du zu früh zu viel auf dich nimmst …“
Eindringlich schaute er ihr in die Augen. „Du brauchst mich nicht zu beschützen, Caitlyn. Und die Sache mit Mitch, damit komme ich schon klar.“
Ihre schlanken Finger umschlossen sein Handgelenk. „Ich weiß. Das tun wir beide, genau
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