061 - In der Gewalt der Schneemenschen
Gregor Yameshi stemmte sich gegen den Schneesturm. Immer wieder mußte er stehenbleiben. Er schmiegte sich an die hohe, unbezwingbar scheinende Steilwand. Der Schnee fiel so dicht, daß er kaum einen Meter weit sehen konnte. Von den vier Sherpas, die ihn begleiteten, sah er nichts.
Eine weitere Suche ist bei diesem scheußlichen Wetter unmöglich geworden, dachte er. Ich muß versuchen, so rasch wie möglich ins Lager zurückzukommen. Aber eine Rückkehr war bei diesem Wetter auch nicht so einfach. Vor weniger als einer Stunde hatte er einen trügerischen Gletscher überquert. Bei diesem Schneesturm würde er kaum die heimtückischen Spalten erkennen können.
Es war besser, abzuwarten, bis der Sturm sich ausgetobt hatte.
Er setzte sich und starrte die Schneeflocken an, die ihm ins Gesicht peitschten. Schon lange zuvor hatte er die Kapuze seines pelzgefütterten Anoraks aufgesetzt.
Gregor Yameshi war im Himalajagebiet aufgewachsen. Er war an das Wetter gewöhnt; und er kannte die Schrecken der Berge, den plötzlichen Wetterumschwung, die gefährlichen Steilwände und die Spalten, die sich wie tiefe Wunden durchs Gestein zogen. Der Berg war sein Gegner und sein Freund. Er haßte und liebte ihn. Für ihn waren die Achttausender wie Frauen - manchmal sanft und freundlich, dann trügerisch und bösartig.
Er war ein Abenteurer; ein Mischling, der seinen Vater nie zu Gesicht bekommen hatte. Angeblich sollte sein Vater ein versoffener Engländer gewesen sein, der seine Mutter, eine Inderin, in Gorakhpur kennengelernt hatte. Er schwängerte sie, zog den Hut und verschwand für immer. Auch an seine Mutter konnte sich Gregor nur undeutlich erinnern. Sie war eine sanfte, winzig kleine Frau gewesen, die selten gelacht hatte. Nach ihrem Tod war er nach Nepal zu Verwandten gebracht worden. Er wußte nicht einmal genau, wie alt er war; doch das war unwichtig. Aufgewachsen unter den Sherpas, hatte er schon in frühester Jugend Bekanntschaft mit den Bergen gemacht.
Der Schneesturm wurde noch heftiger. Irgendwo krachten gewaltige Eisbrocken ins Tal.
Yameshi lehnte sich gegen die Felswand. In den vergangenen zwanzig Jahren war er viel in der Welt herumgekommen. Man konnte ruhig sagen, daß er vermögend war. Er hätte es nicht nötig gehabt, sich hier aufzuhalten, doch die Berge des Himalajas ließen ihn nicht los. Er hätte sich irgendwo ein Haus kaufen und eine Frau zulegen können, doch er wollte es nicht; er liebte das Abenteuer, kämpfte gern. Sein ganzes Leben lang war er ein Kämpfer gewesen. Es war ihm gleichgültig, wer sein Gegner war - ein Tier, ein Berg oder ein Mensch.
Gelegentlich hob er den Kopf und lauschte, doch außer dem wütend heulenden Sturm war nichts zu hören. Der Schnee hüllte seine angezogenen Beine wie ein Tuch ein.
Sein Haar war grau, etwas heller als der wild wuchernde Vollbart, der ihn älter erschienen ließ, als er war.
Vor einigen Wochen hatte er sich einer Expedition angeschlossen, die auf der Suche nach dem Yeti war, jenem geheimnisvollen Schneemenschen, von dem kein Foto existierte. Viele - wenn nicht die meisten Menschen - hielten die Erzählungen über den Yeti für Märchen. Sie glaubten nicht an ihn. Doch Yameshi wußte es besser. Er selbst hatte einige Yetis erlegt. Früher, hatte man sie oft gesehen, doch seit Nepal seine Grenzen geöffnet hatte - damals 1951- hatten sich die Yetis zurückgezogen. Bis jetzt hatte die Expedition in der Gegend des Mount Everest fünf Siebentausender untersucht, aber keine Spur eines Yeti gefunden. Doch vor zwei Tagen hatte ein Sherpa Glück gehabt: Im frisch gefallenen Schnee hatte er auf einem Berggrat die Fußspuren eines großen Yeti entdeckt. Irgendwo in der Gegend mußten sich also Yetis aufhalten; das war sicher. Und Yameshis Aufgabe war es, sie aufzuspüren.
Geduldig wartete er auf das Nachlassen des Schneesturms. Um die vier Sherpas, die ihn begleiteten, machte er sich nur wenig Sorgen. Sie waren, so wie er, in den Bergen aufgewachsen und hatten unzählige Expeditionen begleitet.
Seine Gedanken irrten ab. Er dachte an Jeff Parker, der vor einigen Wochen plötzlich aufgetaucht war und sich der Expedition angeschlossen hatte. Jeff Parker war nur aufgenommen worden, weil er sich mit mehr als fünfzig Prozent an den Expeditionskosten beteiligt hatte. Yameshi hatte sich für ihn eingesetzt, als er erfahren hatte, daß Jeff Parker mit Dorian Hunter befreundet war. Yameshi grinste, als er an Dorian Hunter dachte. Er hatte ihn in Schweden
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