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Der Prophet

Titel: Der Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khalil Gibran
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Frucht ist Geben ein Bedürfnis, so wie der Wurzel Empfangen ein Bedürfnis ist.
     
    Ihr seid gut, wenn ihr in eurem Reden vollkommen wach seid.
    Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr schlaft, während eure Zunge absichtslos stammelt.
    Und selbst stockende Rede kann eine schwache Zunge kräftigen.
     
    Ihr seid gut, wenn ihr entschlossen und festen Schritts auf euer Ziel zuwandert.
    Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr es hinkend anstrebt.
    Selbst der Hinkende schreitet nicht zurück.
    Aber ihr, die ihr kräftig und schnell seid, hütet euch, aus vermeintlicher Freundlichkeit vor dem Lahmen zu hinken.
     
    |67| Auf zahllose Weisen seid ihr gut, und seid ihr nicht gut, seid ihr deswegen nicht böse,
    Sondern nur träge und unentschlossen.
    Wie schade, dass der Hirsch die Schildkröte nicht laufen lehren kann!
    In eurer Sehnsucht nach eurem übermenschlichen Selbst liegt euer Gutsein – und diese Sehnsucht lebt in jedem von euch.
    Aber in manchen von euch ist diese Sehnsucht ein Wildwasser, das mit Ungestüm auf den Ozean zueilt und die Geheimnisse der
     Berghänge und die Lieder des Waldes mit sich führt.
    Und in anderen ist sie ein seichter Bach, der sich in Schleifen und Windungen verliert und immer wieder innehält, ehe er die
     Küste erreicht.
    Aber wessen Sehnsucht stark ist, der sage nicht zu dem, dessen Sehnsucht schwach ist: »Was gehst du so langsam und zögernd?«
    Denn der wahrhaft Gute fragt nicht den Nackten: »Wo ist dein Mantel?« noch den Obdachlosen: »Was ist mit deinem Haus geschehen?«

|68|
Vom Gebet
    Dann sagte eine Priesterin: Sprich zu uns vom Gebet.
    Und er antwortete und sagte:
    Ihr betet in eurer Verzweiflung und Not; tätet ihr’s doch auch in der Vollkommenheit eures Glücks und in den Zeiten des Überflusses!
     
    Denn was ist Gebet anderes als die Ausdehnung eurer selbst in den lebendigen Äther hinein?
    Und wenn es euch Linderung verschafft, eure Dunkelheit in den Raum zu ergießen, verschafft es euch auch Freude, die Morgenröte
     eures Herzens auszugießen.
    Und wenn ihr nicht umhinkönnt zu weinen, wenn eure Seele euch zum Gebet ruft, dann sollte sie euch immer und immer wieder
     durch Weinen antreiben, bis ihr zuletzt ihrem Ruf lachend folgt.
    Wenn ihr betet, schwingt ihr euch auf, jenen in der Luft zu begegnen, die zur gleichen Stunde beten und denen ihr, außer im
     Gebet, vielleicht niemals begegnen würdet.
    Deswegen ziele euer Besuch in jenem unsichtbaren |69| Tempel auf nichts anderes ab als auf Ekstase und innige Zwiesprache.
    Denn solltet ihr den Tempel zu keinem anderen Zweck betreten, als zu bitten, so wird euch nicht gegeben werden;
    Und solltet ihr ihn betreten, um euch zu erniedrigen, so werdet ihr nicht erhöht werden;
    Ja, selbst wenn ihr ihn betreten solltet, um das Wohl anderer zu erflehen, werdet ihr nicht erhört werden.
    Es genügt, dass ihr den unsichtbaren Tempel betretet.
     
    Ich kann euch nicht lehren, mit Worten zu beten.
    Gott hört nicht auf eure Worte, es sei denn, Er spricht sie selbst durch eure Lippen aus.
    Und ich kann euch nicht lehren, wie die Meere und die Wälder und die Berge zu beten.
    Aber ihr, die ihr Kinder der Berge und der Wälder und der Meere seid, könnt deren Gebet in eurem Herzen entdecken,
    Und wenn ihr nur horcht in der Stille der Nacht, werdet ihr sie schweigend sprechen hören:
    »Unser Gott, der du bist unser Engel selbst, es ist dein Wille in uns, der will.
    Es ist deine Sehnsucht in uns, die sich sehnt.
    Es ist dein Verlangen in uns, das unsere Nächte, die |70| dein sind, in Tage zu verwandeln verlangt, die ebenfalls dein sind.
    Um nichts können wir dich bitten, denn du kennst unsere Bedürfnisse, noch ehe sie in uns geboren sind.
    Du bist unser Bedürfnis; und indem du uns mehr von dir gibst, gibst du uns alles.«

|71|
Vom Genuss
    Dann trat ein Einsiedler vor, der einmal im Jahr in die Stadt kam, und sagte: Sprich zu uns vom Genuss.
    Und er antwortete und sagte: Der Genuss ist ein Lied von der Freiheit, aber er ist nicht die Freiheit.
    Er ist das Erblühen eurer Wünsche, aber nicht deren Frucht.
    Er ist eine Tiefe, die zu einer Höhe ruft, aber er ist weder das Tiefe noch das Hohe.
    Er ist der gefangene Vogel, der auffliegt, aber er ist kein durchmessener Raum.
    Ja, der Genuss ist wahrhaft ein Lied von der Freiheit,
    Und ich wünschte, ihr sänget es aus dem Überschwang des Herzens; doch solltet ihr euer Herz nicht an den Gesang verlieren.
     
    Manche eurer jungen Leute suchen den Genuss, als sei er alles, und

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