Der Prophet
Geheimnisses, ist keine Liebe, sondern ein ausgeworfenes
Netz – und nur Wertloses verfängt sich darin.
Und euer Bestes sei für euren Freund.
Wenn er die Ebbe eurer See erleben muss, lasst ihn auch deren Flut erleben.
Denn was ist euer Freund, dass ihr ihn aufsuchen dürftet, um Zeit totzuschlagen?
Sucht ihn stets auf, um Zeit zu erleben.
Denn seine Aufgabe ist, eure Sehnsucht, nicht eure Leere zu erfüllen.
Und die Süße eurer Freundschaft sei mit Lachen und geteilten Freuden gewürzt.
Denn im Tau kleiner Dinge findet das Herz seinen Morgen und seine Erquickung.
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Vom Reden
Und dann sagte ein Gelehrter: Sprich vom Reden.
Und er antwortete und sagte:
Ihr redet dann, wenn ihr aufhört, mit euren Gedanken in Einklang zu sein;
Und wenn ihr nicht länger in der Abgeschiedenheit eures Herzens wohnen könnt, lebt ihr in euren Lippen, und Geräusch ist eine
Zerstreuung und ein Zeitvertreib.
Und in einem Großteil eures Redens wird das Denken halb ermordet.
Denn das Denken ist ein Vogel des Himmels, der in einem Käfig aus Worten zwar vielleicht seine Flügel ausbreiten kann, nicht
aber zu fliegen vermag.
Es gibt manche unter euch, die aus Furcht vor dem Alleinsein die Gesellschaft des Geschwätzigen suchen.
Die Stille der Einsamkeit lässt ihr nacktes Selbst aufscheinen, und sie möchten entfliehen.
Und es gibt jene, die reden und ohne Wissen und Absicht eine Wahrheit aussprechen, die sie selbst nicht verstehen.
|62| Und es gibt jene, die die Wahrheit in sich tragen, aber diese nicht in Worte fassen.
Im Herzen dieser Menschen wohnt der Geist in wogendem Schweigen.
Begegnet ihr eurem Freund auf der Straße oder auf dem Marktplatz, lasst den Geist in euch eure Lippen bewegen und eurer Zunge
befehlen.
Lasst die Stimme in eurer Stimme zum Ohr seines Ohrs sprechen;
Denn seine Seele wird die Wahrheit eures Herzens bewahren, so wie der Geschmack des Weins noch im Gedächtnis verbleibt,
Wenn die Farbe vergessen ist und das Gefäß zerbrochen.
|63|
Von der Zeit
Und ein Sternkundiger sagte: Meister, wie verhält es sich mit der Zeit?
Und er antwortete:
Ihr möchtet die Zeit messen, die doch ohne Maß ist und unermesslich.
Ihr möchtet euer Handeln und selbst den Lauf eures Geistes nach Stunden und Jahreszeiten ordnen.
Aus der Zeit möchtet ihr einen Fluss machen, von dessen Ufer aus ihr in Muße dessen Strömen betrachten könnt.
Doch das Zeitlose in euch ist sich der Zeitlosigkeit des Lebens bewusst
Und weiß, dass das Gestern nichts als die Erinnerung des Heute ist und das Morgen das, was das Heute erträumt.
Und was in euch singt und gewahrt, wohnt nach wie vor in den Grenzen jenes ersten Moments, der die Sterne im Weltraum verstreute.
Wer von euch spürt etwa nicht, dass seine Fähigkeit zu lieben unbegrenzt ist?
|64| Und dennoch, wer empfindet nicht, dass ebendiese Liebe, wenn auch unbegrenzt, doch restlos im Zentrum seines Wesens enthalten
ist und sich nicht von Liebesgedanken zu Liebesgedanken bewegt noch von Liebeshandlung zu Liebeshandlung?
Und ist etwa die Zeit nicht ganz so wie die Liebe – ungeteilt und raumlos?
Aber wenn ihr schon die Zeit in Gedanken nach Jahreszeiten bemessen müsst, dann möge jede einzelne Jahreszeit alle übrigen
Jahreszeiten umfassen,
Und das Heute umarme das Vergangene mit Erinnern und das Künftige mit Sehnsucht.
|65|
Von Gut und Böse
Und einer der Stadtältesten sagte: Sprich zu uns von Gut und Böse.
Und er antwortete:
Vom Guten in euch kann ich sprechen, nicht aber vom Bösen. Denn was ist das Böse denn anderes als das Gute, das von seinem
eigenen Hunger und Durst gequält wird?
Wahrlich, wenn das Gute hungert, sucht es sogar in finsteren Höhlen nach Nahrung, und wenn es durstig ist, trinkt es selbst
fauliges Wasser.
Ihr seid gut, wenn ihr eins mit euch seid.
Doch seid ihr nicht eins mit euch selbst, seid ihr deshalb nicht böse.
Denn ein entzweites Haus ist keine Räuberhöhle; es ist nur ein entzweites Haus.
Und ein Schiff ohne Ruder kann ziellos zwischen gefährlichen Klippen treiben ohne unterzugehen.
Ihr seid gut, wenn ihr danach strebt, etwas von euch zu geben.
|66| Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr euren eigenen Vorteil erstrebt.
Denn sucht ihr euren Vorteil, seid ihr nur eine Wurzel, die sich an die Erde klammert und an deren Brust saugt.
Die Frucht kann schließlich nicht zur Wurzel sagen: »Sei wie ich, reif und voll und immer bereit, vom eigenen Überfluss zu
geben!«
Der
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