Der Prophet
damit sein Herz sich in die Sonne erheben kann, müsst ihr den Schmerz
erfahren.
Und könntet ihr in eurem Herzen das Staunen über die täglichen Wunder eures Lebens wach halten, erschiene euch euer Schmerz
nicht weniger wunderbar als eure Freude;
Und ihr würdet die Jahreszeiten eurer Seele ebenso annehmen, wie ihr von jeher die Jahreszeiten angenommen habt, die über
eure Felder ziehen.
Und ihr würdet die Winter eures Kummers mit heiterer Gelassenheit durchwachen.
Euer Schmerz ist großenteils selbst erwählt.
Er ist der bittere Trank, mit dem der Arzt in euch euer krankes Selbst kuriert.
|54| Vertraut also dem Arzt und trinkt seine Medizin ruhig und ohne zu murren,
Denn seine schwere und harte Hand gehorcht der sanften Hand des Unsichtbaren,
Und der Becher, den er euch reicht, verbrennt euch zwar die Lippen, doch er ist aus dem Ton geformt, den der Töpfer mit seinen
eigenen heiligen Tränen benetzte.
|55|
Von der Selbsterkenntnis
Und ein Mann sagte: Sprich zu uns von der Selbsterkenntnis.
Und er antwortete und sagte:
Euer Herz weiß schweigend die Geheimnisse der Tage und der Nächte.
Doch eure Ohren lechzen nach dem Klang des Wissens eures Herzens.
Ihr möchtet in Worten erfahren, was ihr im Denken schon immer gewusst habt.
Ihr möchtet mit euren Fingern den nackten Leib eurer Träume begreifen.
Und das ist auch richtig so.
Der verborgene Quellbrunnen eurer Seele muss unweigerlich steigen und murmelnd zum Meer fließen;
Und der Schatz eurer endlosen Tiefen möchte euren Augen offenbart werden.
Doch haltet keine Waage bereit, um eure unbekannten Schätze zu wägen;
Und versucht nicht, die Tiefen eures Wissens mit Messstab oder Lotleine zu ergründen.
|56| Denn das Selbst ist ein Meer ohne Grenzen und Maß.
Sagt nicht: »Ich habe die Wahrheit gefunden«, sondern: »Ich habe eine Wahrheit gefunden.«
Sagt nicht: »Ich habe den Weg der Seele gefunden.« Sagt: »Ich bin auf meinem Weg der wandernden Seele begegnet.«
Denn die Seele wandelt auf allen Wegen.
Die Seele geht keinen geraden Weg, noch wächst sie wie ein Schilfrohr.
Die Seele entfaltet sich, gerade so wie ein tausendblättriger Lotos.
|57|
Vom Lehren
Dann sagte ein Lehrer: Sprich zu uns vom Lehren.
Und er sagte: Kein Mensch kann euch anderes offenbaren als das, was bereits halb schlummernd im Dämmern eures Wissens liegt.
Der Lehrmeister, der, von seinen Jüngern umgeben, im Schatten des Tempels wandelt, gibt nicht von seiner Weisheit, sondern
von seinem Glauben und der Fülle seiner Liebe.
Ist er tatsächlich weise, lädt er euch nicht in das Haus seiner Weisheit ein, sondern führt euch zur Schwelle eures eigenen
Verstands.
Der Sternkundige kann euch sein Verständnis vom Weltall erläutern, aber geben kann er euch sein Verständnis nicht.
Der Musiker kann euch vom Rhythmus singen, der den Weltraum erfüllt, doch er kann euch weder das Ohr geben, das den Rhythmus
einfängt, noch die Stimme, die ihm nachsingt.
Und wer in der Wissenschaft der Zahl bewandert ist, kann euch vom Reich der Längen und Gewichte erzählen, aber dorthin führen
kann er euch nicht.
|58| Denn eines Menschen Einsicht leiht keinem anderen ihre Schwingen.
Und so wie ein jeder von euch allein steht in Gottes Erkenntnis, so muss auch jeder von euch allein sein in seiner Gotteserkenntnis
und seinem Verständnis der Welt.
|59|
Von der Freundschaft
Und ein Jüngling sagte: Sprich zu uns von der Freundschaft.
Und er antwortete und sagte:
Euer Freund ist die Erhörung eurer Bitten.
Er ist euer Acker, auf dem ihr mit Liebe sät und mit Dankbarkeit erntet.
Und er ist euer Tisch und euer Platz am Feuer.
Denn ihr kommt zu ihm mit eurem Hunger, und ihr sucht bei ihm den Frieden.
Wenn euer Freund seine Meinung äußert, fürchtet ihr nicht das Nein in eurer Seele, noch versagt ihr ihm das Ja.
Und wenn er schweigt, hört euer Herz nicht auf, seinem Herzen zu lauschen;
Denn ohne Worte werden in der Freundschaft alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen geboren und geteilt, mit einer Freude,
die keiner Bestätigung bedarf.
Und trennt ihr euch von eurem Freund, dann trauert ihr nicht;
Denn was ihr an ihm am meisten liebt, könnte in seiner |60| Abwesenheit klarer zu erkennen sein, so wie dem Kletterer der Berg von der Ebene aus deutlicher erscheint.
Und kein anderes Ziel soll die Freundschaft haben als die Vertiefung des Geistes.
Denn Liebe, die etwas anderes erstrebt als die Offenbarung ihres eigenen
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