Der Puppengräber
fuhr mit ihr nach Lohberg. Sie hatte ein Tablett mit Kuchenstücken dabei und betrat das Zimmer mit einem Lächeln auf dem Gesicht, nach dem ihr gewiss nicht zumute war. Er saß aufrecht im Bett; als er sah, wer hereinkam, lächelte er auch. Mich kannte er inzwischen. Aber für mich hatte er weder einen Blick noch ein Schimpfwort übrig.
«Das ist ja mein Bester», sagte Sibylle. «Jetzt werde ich aber feste gedrückt. Und dann gibt es ein feines Stück Torte.»
Sie nahm ihn in die Arme, und ich sah, wie er sein Gesicht an ihrer Schulter rieb. Als sie ihn freigab, fasste er sich an den Kopf und sagte: «Weh.»
«Ja, du armer Kerl», tröstete Sibylle, «hat der Vater dich wieder geschlagen. Dabei warst du so lieb. Du hast es so fein gemacht.»
Er schien zufrieden mit diesem Lob und machte sich über den Kuchen her. Meine Fragen konnte er nicht beantworten, auch nicht, als Sibylle sie stellte. Er fragte nur immer wieder: «Fein?» Und Sibylle erklärte ihm, dass Trude, Tanja, Antonia, dass alle sehr krank seien, ebenso krank wie er. Aber es werde bestimmt bald besser, und dann dürfte er wieder nach Hause.
Unverrichteter Dinge fuhren wir zurück ins Dorf. «Was wird jetzt aus ihm?», fragte Sibylle.
Ich konnte ihr diese Frage nicht beantworten.
«Jakob wird ihn nicht heimholen», meinte sie. «Er verkraftet es nicht, dass er ihn geschlagen hat. Und wenn Trude stirbt …»
Trude starb nicht. Ende September erhielt ich von den behandelnden Ärzten die Erlaubnis, kurz mit ihr zu sprechen. Die Aussage ihrer Tochter hatte ich schon zwei Tage zuvor zu Protokoll genommen. Angaben zum Tatgeschehen konnte Tanja Schlösser nicht machen. Sie erinnerte sich nur noch daran, dass Ben den Kopf auf den Tisch gelegt hatte und sofort hinter ihr hergerannt war. Für mich war das noch einmal eine verblüffende Wendung gewesen. Aber Trude wusste inzwischen, dass Bens Unschuld bewiesen war. Sie hielt es mit mir nicht anders als mit Jakob in all den Jahren.
«Ben hat öfter was heimgebracht», sagte sie. «Er hatja immer draußen gebuddelt. Und wenn was auf dem Weg lag, hat er es natürlich aufgehoben. Vor zwei Jahren hat er mal einen uralten Knochen angeschleppt.»
«Frau Schlösser», sagte ich, «das war kein alter Knochen, es war der Kopf eines jungen Mädchens, nach dem das halbe Dorf fieberhaft suchte.»
«Und was hätten Sie damit gemacht an meiner Stelle?», fragte Trude. «Sie hätten auch nicht die Polizei gerufen, wenn er Ihr Sohn wäre und Ihnen nicht sagen könnte, wo er die Sachen findet. Sie hätten genauso wie ich gewusst, dass jeder denkt, er hätte es getan. Wenn Sie mich dafür bestrafen müssen, dann tun …»
«Hat er noch mehr gefunden als einen uralten Knochen und den Kopf?», unterbrach ich sie.
«Nur die Jacke von der Amerikanerin», sagte Trude. «und da sind wir mit ihm den ganzen Weg abgegangen, aber er konnte uns nicht zeigen, wo sie gelegen hatte.»
Meine Hoffnung auf eine restlose Klärung begrub ich damit endgültig. Niemand dachte daran, Trude für die Aktion in ihrem Garten zu belangen. Der Staatsanwalt hielt ihr den Schock zugute.
EPILOG
Während der Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Jakob tat, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren. Nicht ein einziges Mal schaute er zur Seite. Einen Tag zuvor war Trude endlich aus der Klinik entlassen worden. Weitgehend genesen, dürr geworden, das Gesicht so knochig, blass und voller Trauer, dass Jakob es bisher noch nicht geschafft hatte, sie länger als eine flüchtige Sekunde anzusehen. Dabei hatte er sich so auf ihr Heimkommen gefreut.
In den letzten Wochen hatte er fast jeden Abend bei einem Glas Mineralwasser zusammen mit Wolfgang Ruhpold von der Zukunft geträumt. Und immer hatte er dabei dasselbe Bild vor Augen gehabt. Den gedeckten Frühstückstisch, vier Teller, vier Tassen, vier kleine Löffel und vier Messer. Jedes Mal hatte Trude gesagt: «Nimm nicht so viel Butter aufs Brot, Ben.» Dann hatte Tanja gesagt: «Ich muss los, Bär, sonst komme ich zu spät zur Schule. Läufst du noch ein Stück mit?»
So war es nie gewesen, und so würde es wohl auch nie sein.
Vor zwei Tagen, als Jakob es endlich schaffte, Tanja bei Paul und Antonia zu besuchen, war Paul sofort aus dem Zimmer gegangen.
«Es hat ihn zerrissen», hatte Antonia gesagt und plötzlich geschrien: «Es ist deine Schuld, Jakob. Es ist nur deine Schuld. Wenn du mit ihm gegangen wärst, statt ihn zu schlagen …» Dann war auch sie aus dem Zimmer gerannt.
Tanja
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