Der Rabbi
ich werd dieses Kind nie wiedersehen.« Er ließ sich fallen, sein Kopf schlug mit solcher Kraft gegen die Schulter seines Zuhörers, daß es Michael fast vom Bett geworfen hätte. Der aber hielt ihn fest, wiegte ihn leise und schwieg. Lange. Dann nahm er sehr sanft die Pistole aus den erschlafften Fingern. Er hatte nie zuvor eine Waffe in der Hand gehalten; sie war überraschend schwer. Über den Kopf des Mannes hinweg las er die erhabene Prägung auf dem Lauf: SAUER
U. SOHN, SUHL, CAL 7.65. Dann legte er die Pistole neben sich auf das Bett. Er wiegte noch immer, umfaßte den an seiner Schulter ruhenden Kopf des Mannes mit der Rechten und streichelte sein wirres Haar. »Weinen Sie, Mr. Lefcowitz«, sagte er, »weinen Sie.«
Es war noch dunkel, als die Militärpolizei ihn vor dem Tempel aussteigen ließ. Michael entdeckte, daß er das Tor unversperrt gelassen und nicht einmal das Licht ausgeschaltet hatte, und er war froh darüber, daß er zurückgekommen war, anstatt geradenwegs nach Hause zu fahren; Rabbi Flagerman hätte sich wahrscheinlich geärgert. Der Ventilator in seinem Büro lief noch immer auf vollen Touren. Die Nachtluft war frisch, und es war ungemütlich kalt im Zimmer. Er stellte den Ventilator ab.
Dann schlief er an seinem Schreibtisch ein, den Kopf auf die Arme gelegt.
Als ihn das Telephon aufschreckte, zeigte die Uhr auf seinem Schreibtisch acht Uhr fünfundfünfzig. Er fühlte sich zerschlagen, und sein Mund war trocken. Draußen schien die Sonne, warm und golden.
Die Luftfeuchtigkeit machte sich schon unangenehm bemerkbar. Er schaltete die Klimaanlage ein, bevor er den Telephonhörer abhob.
Eine Frau war am Apparat. »Kann ich den Rabbiner sprechen?« fragte sie.
Er unterdrückte ein Gähnen und setzte sich auf. »Welchen Rabbiner?«
fragte er.
20
Nicht ganz ein Jahr nach seiner Ankunft in Miami flog Michael nach New York, um Rabbi Joshua Greenberg von der Sons of Jacob-Synagoge bei einer Hochzeit zu assistieren: Mimi Steinmetz wurde einem Wirtschaftsprüfer angetraut, den ihr Vater soeben als Juniorpartner in seine Firma genommen hatte. Als die Jungvermählten einander nach der Zeremonie küßten, spürte Michael plötzlich etwas wie Bedauern und Verlangen - nicht nach diesem Mädchen, sondern nach einer zu ihm gehörenden Frau, nach einem Menschen, den er lieben könnte. Er tanzte den kosazke mit der Braut und trank nachher zuviel Champagner.
Rabbi David Sher, einer seiner ehemaligen Lehrer am Institut, arbeitete jetzt in der Amerikanischen Union Jüdischer Gemeinden. Zwei Tage nach der Hochzeit suchte Michael ihn auf. »Kind! « rief Rabbi Sher und rieb sich die Hände. »Sie sind genau der Mann, den ich brauche. Ich habe einen Posten für Sie.«
»Guter Posten?«
»Lausig. Miserabel.«
Hol's der Teufel, dachte Michael, ich habe Miami gründlich satt. »Ich nehme ihn«, sagte er.
Michael hatte den Wanderprediger für eine Absonderlichkeit aus der protestantischen Vergangenheit gehalten.
»Jüdische Hinterwäldler?« fragte er ungläubig.
»Juden in den Ozarks«, sagte Rabbi Sher. »Sechsundsiebzig Familien in den Bergen von Missouri und Arkansas.«
»Es gibt doch Tempel in Missouri und Arkansas.«
»Ja, im Flachland und in den größeren Gemeinden. Aber nicht in der Gegend, von der ich spreche, im Bergland, wo da und dort ein vereinzelter Jude eine Gemischtwarenhandlung oder ein Fischercamp führt.«
»Sie haben von einem lausigen Posten gesprochen. Das klingt aber doch großartig.«
»Sie haben einen Umkreis von achthundert Kilometern zu bereisen. Nie wird's ein Hotel geben, wenn Sie eines suchen, Sie werden sich mit dem einrichten müssen, was Sie vorfinden. Die meisten von Ihren Gemeindemitgliedern werden Sie mit offenen Armen aufnehmen, aber es wird auch solche geben, die Sie wegschicken, und solche, die sich nicht um Sie kümmern. Sie werden dauernd unterwegs sein.«
»Ein transportabler Rabbiner.«
»Ein rabbinischer Vagabund.« Rabbi Sher nahm einen Ordner aus dem Aktenschrank. »Da ist eine Liste der Dinge, die Sie besorgen müssen; Sie können alles der Union verrechnen. Ein Kombiwagen ist für den Posten vorgesehen. Sie werden einen Schlafsack und sonstige Campingausrüstung brauchen. Und wenn Sie Ihren Wagen kaufen, Rabbi«, sagte er mit breitem Grinsen, »dann sorgen Sie dafür, daß man Ihnen extrastarke Stoßdämpfer einbaut.«
Vier Wochen später war er in den Bergen, nach einer zweitägigen Fahrt über zweitausendfünfhundert Kilometer von Miami
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