Der raffinierte Mr. Scratch: Roman (German Edition)
Person namens Dawn, sie weinend vor einem mexikanischen Restaurant antraf und mit zu sich nach Hause nahm, wo sie mit einer Gruppe Hippies lebte. Sie gaben Memory ihren neuen Namen und halfen ihr dabei, nützliche Dinge zu entdecken – beispielsweise Sachen zu waschen und zu duschen und ein wenig zu kochen – sowie wichtige Verhaltensregeln wie »Verbrenn dich nicht an offenem Feuer« und »Lauf nicht einfach auf die Straße«. Sie lernte Dinge, die sie mochte, zum Beispiel Musik, und Dinge, die sie nicht mochte, zum Beispiel Kokosnuss und gelben Käse. Der Typ mit dem Bart lehrte sie Gitarre spielen – gut genug, dass die anderen im Haus sie ermunterten, damit weiterzumachen.
Eines Tages brachte jemand sie zum Singen, und von diesem Moment an schien sie die anderen zu verzaubern. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne, geisterhaft und flüchtig.
Der Bärtige lehrte sie außerdem, dass sie gerne Liebe machte und tanzte. Was ihr nicht gefiel, war Unkrautjäten in Dawns Gemüsegarten, aber bei dieser Arbeit wechselten sich alle ab. Sie lernte zu helfen und zu arbeiten und ihren Anteil zu leisten.
Eines Tages brachte Dawn sie in ein Krankenhaus, um herauszufinden, ob man etwas wegen ihrer Erinnerung tun könne, doch die Ärzte wollten sie hinter verschlossenen Türen unter Beobachtung halten, und die beiden jungen Frauen konnten nur mit knapper Not aus dem Hospital flüchten, ohne geschnappt zu werden.
Später in der gleichen Woche kamen ein paar laute, fröhliche junge Männer und Frauen in einem rostigen VW -Bus, die auf dem Weg nach San Francisco für ein paar Nächte im Haus wohnten. Als sie weiterfuhren, blieb Memory bei ihnen. Sie beobachtete die Landschaft draußen vor der Windschutzscheibe, bis sie es mit der Angst zu tun bekam, zwang sich dann aber, weiter nach draußen zu schauen, bis die Angst wieder verging.
San Francisco war ein riesiger großer Jahrmarkt für Menschen wie Memory, die nur in der Gegenwart lebten, unbeeinträchtigt von ihrer Vergangenheit. Eines Tages sang sie zusammen mit einer Straßenband, und ein älterer Typ mit Bart und Sonnenbrille drehte sich um und lauschte. Als sie geendet hatte, sprach er sie an.
Der Mann war Dan Paul Overfield.
Ein Jahr lang reisten sie zusammen durchs Land, nahmen Songs auf und wurden nach und nach berühmt. Es dauerte nicht lange, bis die Band und das Singen alles waren, was Memory kannte, und sie wünschte sich sehnlichst richtigen Ruhm, weil richtige Berühmtheit vielleicht dieses Zwanzig-Jahre-Loch zu füllen vermochte.
Inzwischen erstrahlte ihr Ruhm wie eine aufgehende Sonne. Doch er tat nichts dazu, das Loch zu füllen. Weil man Seelenhunger nicht stillen kann. Ihn zu füttern macht ihn nur noch schlimmer. Man muss das füttern, was den Hunger verursacht, und das konnte sie natürlich nicht.
»Ich kann nicht!«, gurgelte sie und öffnete die Kehle weit, wie Pig es sie gelehrt hatte, sodass der Wein geradewegs in ihren Magen laufen konnte.
Die Tür öffnete sich. Kühle Luft wehte herein und verwirbelte den Dampf. Pig betrachtete sie (die Band hatte kein Problem mit Nacktheit. Eigentlich hatte Memory auch gar keine Wahl.)
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
Die Sanftheit in seiner Stimme – sie war da, wenn man Pig kannte – war in dieser einen Sekunde das einzig Echte in ihrer Welt. Beinahe hätte sie geweint.
»Ja, sicher«, sagte sie. »Piggy Pig.«
Die Tür schloss sich wieder.
Der Dampf beruhigte sich.
Ruhm war eine überraschende Sache. Auf der einen Seite war er genau das, was sie erwartet hatte, auf der anderen Seite auch wieder nicht.
Er umfing sie wie eine rosa Wolke. Wenn sie die Augen schloss, hier im warmen Wasser und den Blasen und dem Dampf und mit ihren blauen Pillen und dem Wein, der alles weich machte, konnte sie sie da draußen beinahe spüren. Ein Meer verschwommener Gesichter, die ihrer Musik lauschten, die sie liebten. Die sie zum Schweben brachten und ihre leeren Erinnerungen ausfüllten. Manchmal war es genug, für einen kurzen Moment zumindest, so wie jetzt. Es war wie die Musik selbst, und sie war glücklich, ohne denken zu müssen.
Doch es hielt nie vor.
Denn Ruhm war wie ein Tier. Er verhielt sich wie ein Löwe an einer silbernen Kette. Leute waren beeindruckt, wenn man ihn hatte. Er brachte einem viele gute Dinge, doch er stellte auch Forderungen. Er musste gefüttert werden. Beispielsweise mit Telefonen, die niemals aufhörten zu klingeln. Oder Deadlines oder viele Meilen, die zu reisen waren, und
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