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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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doch bei allen übrigen hatten vor allem die Kinder Begeisterung für das erregende Schauspiel gezeigt.
    Nicht so in Hameln. Kein einziges Kind war um die Flammen gesprungen, keine Jungen und Mädchen hatten sich zum Reigen am Feuer getroffen.
    Und so erwies sich ein zweites Gerücht vom Hofe Heinrichs als seltsame Wahrheit: Es gab keine Kinder in Hameln.
    Sie waren alle verschwunden.
    ***
    Eine schmale Marktstraße führte in weitem Schwung an der südöstlichen Stadtmauer entlang. Rechts und links standen Fachwerkbauten aus Holz, vor deren Türen und Fenstern Händler ihre Stände aufgeschlagen hatten. Hatte man den neuen Marktplatz in der Stadtmitte zweifellos eher als Versammlungsort geplant, war diese Straße der Ort, wo Handwerk und Gewerbe ihren Sitz hatten. Hameln mochte abgelegen sein, fern der großen Siedlungen, doch war die Stadt im Besitz der einzigen Weserbrücke weit und breit, so daß es eine Vielzahl fahrender Kaufleute gab, die hier Rast machten und für einige Tage ihre Ware feilboten. Das Angebot an Stoffen und Gebäck, an Weinen, Waffen und tönernen Gefäßen war reichhaltig, hinzu kamen allerlei Utensilien für den Gebrauch in Küche, Werkstatt und Wohnraum, von Kisten über Felle bis hin zu Gewürzen aus dem Orient – zumindest bestanden die Verkäufer auf derlei exotischer Herkunft.
    Die enge Gasse war voll von Menschen, die aufgeregt aus ihren Häusern geeilt waren. Die Kunde vom Unglück auf dem Marktplatz verbreitete sich schneller als der Wind, der den Odem von Feuer und verkohltem Fleisch über die Stadt wehte. Der Donner mußte weit über Hameln hinaus zu hören gewesen sein, und nun machten sich die Männer und Frauen auf, um herauszufinden, was geschehen war. Der Regen preßte den schwarzen Qualm des Feuers als graue Dunstwolke auf die Gassen nieder, so war es unmöglich, weiter als zehn, fünfzehn Schritte zu sehen. Alles redete aufgebracht durcheinander, und manch einer deutete auf mich und meine rußbefleckte Kleidung.
    »Was ist geschehen?« sprach mich eine Vettel an.
    Ich blickte vom Pferd auf sie herab und erwog für einen Augenblick, zu antworten. Schließlich aber schien mir dies zu zeitraubend. Ich wollte nicht länger als nötig in der Stadt bleiben und hoffte, daß mir der Statthalter des Herzogs all meine Fragen beantworten konnte. Vielleicht würde es nicht einmal nötig sein, ein Nachtquartier zu suchen. So also ließ ich die Alte unbeachtet stehen und trieb mein Pferd zur Eile an.
    Schließlich hatte ich das Menschenvolk hinter mir gelassen. Die Gasse machte einen Knick nach rechts von der Stadtmauer fort, ich aber ritt weiter entlang des Befestigungswalls.
    Das Haus des Statthalters Graf Albert von Schwalenberg war nicht zu übersehen, so man einmal der engen Gasse bis zu ihrem Ende gefolgt war. Linkerhand wuchs hinter einem schmalen Streifen versumpfter Wiese die dunkelbraune Stadtmauer in die Höhe, rechts beugten sich schmale Fachwerkhäuser unter der Last des ewigen Regens. Der Boden war aus gelbem Lehm, zweifellos einst festgestampft, nun aber wie alles andere von schwerer Feuchtigkeit durchtränkt. Die Hufe des Pferdes sanken einige Fingerbreit ein, und jedem Schritt folgte ein widerlich schmatzender Laut.
    Der Sitz des Grafen war eines der wenigen fertiggestellten Steinhäuser in der Stadt. Es besaß zwei Stockwerke, wobei sich das obere einen halben Schritt über das Erdgeschoß hinausschob. Obenauf saß ein hohes Dach, aus dem dort, wo die Außenwand an die Stadtmauer stieß, ein kleiner Turm mit Zinnenkrone ragte wie ein zu groß geratener Kamin. Die Fassade war mit farbigen Malereien bedeckt, phantastischen Darstellungen alter Sagen und Legenden, denen eines gemeinsam war: Stets ging es um den Traum vom Fliegen. Ich erkannte den König des Zweistromlandes auf dem Rücken seines Riesenadlers, den er zuvor aus einer Schlangengrube befreit hatte; da war der orientalische Herrscher, der über seinem Thron ein hohes Gerüst voll mit Fleischstücken errichten ließ und hungrige Adler über seinem Kopf fesselte, so daß sie beim verzweifelten Bemühen zum Fleische aufzusteigen, den Thron mit in die Lüfte hoben; auch der große Alexander schwebte mit einem Greifengespann über die Fassade des Hauses, gleichfalls Herzog Ernst, dem ähnliches im vorigen Jahrhundert gelungen sein sollte; selbst Ikarus raste aufwärts zur Sonne. Mich erschütterte, daß auch unser Herr Jesus seinen Platz auf der Mauer gefunden hatte – seine Himmelfahrt war in prallen, häßlichen

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