Der Rattenzauber
den Torso des Probstes entblößt und einen groben Schnitt vom Hals bis hinab an die Scham geführt. Allein das Seil, mit dem man den Oberkörper unterhalb des Brustbeins ans Kreuz gebunden hatte, war unversehrt geblieben. Die Öffnung klaffte feigenförmig, und dahinter war nichts als rote Leere. Sein Herz war das begehrteste aller Stück gewesen, doch auch die übrigen Organe hatten längst Ehrenplätze in den Häusern und Hütten gefunden. Heilig war von Wetterau erst nach seinem Tod, und seine Reliquien verhießen göttlichen Schutz.
Ob er begriffen hatte, wie ihm geschah?
Von Wetterau war noch nicht alt gewesen; bis zu seinem Ende hätten noch Jahrzehnte vergehen können. So lange aber wollten die Menschen nicht warten.
Hatte der Probst nicht ahnen müssen, daß sein Schicksal längst besiegelt war? Oder nahm er für seinen Wahnsinn gar den Tod in Kauf?
Die Heiligsprechung galt ihm mehr als das Leben der Hamelner Kinder; galt sie auch mehr als sein eigenes?
Eines zumindest ist sicher: Die Menschen haben ihn nicht aus Rache getötet. Von Wetterau mußte sterben, weil er sein Ziel erreichte. Weil mit seinem Tod jedes seiner Glieder heilig war. Am Ende war nicht er der Gewinner, sondern jene, die den Verlust seines vermeindlichen Sieges zu tragen hatten – die Eltern der toten Kinder.
Die Menschen mußten im Rudel über ihn hergefallen sein. Ich vermochte mir die Szene auszumalen. Den Aufruhr, das Geschrei, gleich nachdem Herzog und Bischof aus der Stadt und die Gesandten des Papstes gen Rom gezogen waren. Die verzerrten Gesichter, die blutigen Leiber. Jeder mit einer Klinge bewaffnet, mit Säge und Sense, bemüht, sich seinen Teil der Erlösung zu sichern.
Ich stand da und starrte in den entleerten Kadaver, als plötzlich der Hund zurückkam und vor mir auf die Bühne sprang. Winselnd wälzte er sich im Blut, bis sein Fell in der Farbe des Leichnams erstrahlte.
Ich stieg die Treppe zur Bühne hinauf und brach eine Rippe aus von Wetteraus Brustkorb. Soviel war mir der vermeintliche Heilige schuldig, ein wenig Schutz auf meinem Weg nach Süden.
Dann machte ich mich auf und schritt eilig zum Südtor der Stadt. Manch einer mochte mich durchs Fenster erkennen, doch keiner vertrat mir den Weg. Vielleicht war ihr Blutdurst gestillt. Vielleicht gab es besseres zu tun an diesem Morgen, nun, da mancher begreifen mochte, was tatsächlich geschehen war.
Der schmutzige Streuner folgte mir. Kläffend sprang er um meine Füße, mal träge, mal geschwind, das braune Fell starrend von geronnenem Blut. Schulterzuckend betrachtete ich die heilige Rippe, dann warf ich sie dem Köter ins Maul. Er packte sie geschickt mit den Zähnen, drehte um und rannte zurück in die Stadt. Wehmütig sah ich ihm nach, sah zu, wie er hechelnd verschwand, seine Beute zwischen den Kiefern, schwanzwedelnd, stolz.
Ein Wesen beglückt mit dem Segen des Herrn.
ENDE
NACHWORT DES AUTORS
Der Leser, dem man zumutet, sich durch etwas Wunderbares täuschen zu lassen, versteht sehr gut, was man von ihm fordert; und ist er ein williger Leser, so nimmt er leicht die geeignetste Stimmung an, dem Trugbild, das zu seiner Unterhaltung aufgestellt wird, Glauben zu schenken, Walter Scott (1811)
Kaum eine historische Epoche wurde so gründlich erforscht wie das Mittelalter. Ist die Handlung dieses Romans auch fiktiv, so stimmt doch ihr Hintergrund mit der Wirklichkeit überein. Die Menschen waren so rauh wie ihre Zeit; der Glaube an Gott und das Vertrauen in die Kirche bestimmten ihr Leben. So mag der Umgang der Hamelner mit ihrem Heiligen, wie er hier beschrieben wird, frei erfunden sein – ähnliche Ereignisse aber gab es zuhauf.
Das Verschwinden der hundertdreißig Mädchen und Jungen ist historisch verbürgt. Wie eingangs erwähnt hat man bis heute nicht schlüssig beweisen können, was wirklich mit ihnen geschah. Die Legende vom Rattenfänger kennt freilich jedes Kind; über die Jahrhunderte hinweg hat sie nichts von ihrer Faszination verloren. Sie hält das Interesse am Schicksal der Verschollenen wach; vielleicht wird man in Zukunft mehr über ihr Verbleiben erfahren.
Die politische Situation Hamelns – die Zerrissenheit zwischen dem Mindener Bischof und dem Herzog von Braunschweig – entspricht der geschichtlichen Wirklichkeit. Die meisten der in diesem Zusammenhang auftretenden Personen haben tatsächlich gelebt: Herzog Heinrich und sein Statthalter Graf Albert von Schwalenberg, Bischof Volkwin und der Hamelner Vogt Ludwig
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