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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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entlang der Hauptstraße, geradewegs durch das häßliche Ödland. Und während ich so mit einigem Abscheu in den Pfuhl der Baugruben blickte, der rechts und links vorüberzog, bemerkte ich erstmals die gewaltigen Ratten. Pechschwarze, glänzende Kreaturen mit tückischen Augen, manche lang und schwer wie kleine Hunde, die in Rudeln durch das kniehohe Wasser am Grunde der Gruben schnellten. Nicht einige wenige sah ich, nicht Dutzende, sondern – ja, ich schwöre es bei Gott – Hunderte von ihnen. Und je länger ich in den Schlick starrte, desto mehr Tiere hoben sich vom dunklen Boden ab. Ratten über Ratten, so weit das Auge reichte. Ich schauderte vor abgrundtiefem Ekel.
    Die Menschenmenge ergoß sich vor mir auf den Marktplatz wie wildes Wasser durch rissige Mauern. Der Platz selbst war wie eine steinerne Insel inmitten schwarzen Sumpfes. Die schlanke Spitze der Marktkirche ragte hoch über den Platz und das zweistöckige Rathaus hinaus. Beide waren zweifellos als erste Wahrzeichen der Stadthoheit errichtet worden, doch wirkten sie in dieser Umgebung eher wie Mast und Aufbauten eines sinkenden Schiffes. In Gedanken sah ich beides bereits vom Schlamm verschluckt.
    Mein Blick fiel auf zwei weitere markante Merkmale dieser ungemütlichen Örtlichkeit. Zum einen war da der Scheiterhaufen, den einige Männer soeben mit brennbarer Flüssigkeit begossen, damit er trotz des Regens Feuer fangen möge; man hatte das Holz rund um einen aufrechten Pfahl angehäuft, an dem man den Ketzer nun mit Hilfe eiserner Schellen verkettete.
    Das zweite aber, was meine Aufmerksamkeit erregte, war in der Tat der auffälligste aller Anblicke. Eine enorme Bühne nahm die Westseite des Marktplatzes ein, aufgestellt in einem leichten Halbrund, so daß bei einer Aufführung die Zuschauer in vorderer Reihe beinahe von dem Geschehen umgeben waren. Hinzu kam, daß diese Bühne, gezimmert aus mächtigen Balken, drei übereinander liegende Stockwerke besaß und damit gar das Rathaus an Höhe überragte. Nie zuvor hatte ich eine so gigantische Konstruktion zum Zwecke eines Schauspiels gesehen, wenngleich ich gehört hatte, daß es dergleichen in Frankreich geben sollte. Daher erkannte ich auch sogleich den Zweck des ungeheuren Aufwands: Die Hamelner Bürger befanden sich inmitten der Vorbereitungen eines großen Mysterienspiels. Unter Einsatz aller Bewohner wurden Passagen aus der Heiligen Schrift nachgespielt, zumeist der Leidensweg des Heilands. Dabei standen die drei Stockwerke der Bühne für die drei Schichten unserer Welt – oben der Himmel, unten die Hölle, dazwischen die Länder der Menschen. Auf diese Weise vermochte man ein jedes Kapitel der Bibel, ganz gleich, an welchem Ort es sich begab, nachzustellen. Derlei Aufführungen nahmen meist Tage, oft gar viele Wochen in Anspruch, während derer mit Unterbrechungen gespielt wurde.
    Während ich noch beeindruckt auf die Mysterienbühne blickte, hatte mich mein Pferd in einem weiten Bogen bis ganz in die Nähe des Scheiterhaufens getragen. Ohne meine Absicht stand ich plötzlich erneut neben Einhard, dem Obersten der bischöflichen Schergen. Er schenkte mir ein spöttisches Grinsen, das mich von neuem gegen ihn aufbrachte, dann sah er hinauf zu einem Fenster des Rathauses. Ich folgte seinem Blick und erkannte dort mehrere Männer und Frauen, die hinab zur Menge lächelten. Zweifellos handelte es sich dabei um den Bürgermeister, den Stiftsvogt und andere Würdenträger mit ihren Weibern. Einer von ihnen machte Einhard ein Zeichen; jener wiederum gab zwei Männern am Fuß des Scheiterhaufens Befehl, mit ihren lodernen Fackeln Feuer ans Holz zu legen.
    Der Ketzer schwieg weiter und blickte aufrecht, fast hämisch mitten in die Menschenmenge, als wolle er sie selbst in seinen letzten Augenblicken verhöhnen. Viele Gesichter waren zu zornigen Grimassen verzerrt, Fäuste wurden geschwungen und Flüche gebrüllt. Der Mann auf dem Scheiterhaufen nahm all das mit einem überlegenen Lächeln zur Kenntnis, voller Stolz und Würde.
    Die ersten Flammen züngelten über das getränkte Holz, und bald schon umgab den Ketzer ein Ring aus prasselndem Feuer. Dunkler Rauch und Gluthitze wehten mit dem Regen in unsere Gesichter.
    Einhard wandte sich zu mir um und wollte wohl etwas sagen, als hinter uns plötzlich ein Ruf ertönte. Wir fuhren gleichzeitig herum und sahen einen von Einhards Männern, der aufgeregt auf seinen Anführer zueilte und einen kleinen Lederbeutel schwenkte. Er hatte Mühe, sich durch die

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