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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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als jede Waffe. Vor Fäusten und Krallen mochte mich mein Dolch bewahren, doch nichts konnte die entsetzliche Macht der Vergangenheit zerschlagen, die aus diesen Augen über mich kam wie eine Heerschar vergessener Geister. Die Erinnerung übermannte mich mit all ihrer Macht, ich fuhr herum wie vom Blitz getroffen, riß die Tür auf und rannte ins Freie. Panik trieb mich voran, rasend schnell durch fremde Gassen, fort von diesen Augen, fort von dem, was sie wußten.
    Ich erreichte die Grenze der kargen Bauwüste, fast blind vor Grauen, stolperte vorwärts über Stege aus Balken und Brettern, schwankend auf zähem Morast. Eine Wand aus Holz und Stein wuchs vor mir in den grauen Himmel, ich umrundete sie und sank in den trügerischen Schutz ihres Schattens. Hingehockt, die Knie fest an die Brust gezogen, blieb ich sitzen, lauschte dem Grollen fernen Donners und dem Flüstern des Regens auf tiefschwarzen Pfützen.
    ***
    Eine rohe Stimme riß mich schließlich aus traumloser Gleichgültigkeit.
    »He, du! Verschwinde!«
    Vor mir stand, aufgestiegen aus der Tiefe eines Moors, ein riesiger Mann, über und über mit Schlamm bedeckt. In einer Hand hielt er einen schweren Hammer. Seine Stimme war kraftvoll und bestimmt. Ich blinzelte zu ihm auf und erkannte, daß es sich um einen Steinmetz handeln mußte.
    »Was hast du hier zu suchen?« fragte er.
    Hinter ihm erschienen weitere Männer, vier an der Zahl. Sie wirkten mir kaum weniger kräftig als der erste.
    Ich stemmte mich rücklings an der Mauer auf die Beine und bemühte mich, so gelassen wie möglich zu wirken. Falls mir dies gelang, schien es die Tagelöhner nicht zu beeindrucken.
    »Er hat dich was gefragt«, brüllte einer aus dem Hintergrund.
    »Du bist nicht von hier«, stellte ein anderer fest.
    »Seht euch den Dolch an«, rief ein dritter.
    Der Steinmetz beugte sich vor und starrte mir ins Gesicht. »Wer bist du?« fragte er.
    »Robert von Thalstein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß, ehe mir schlagartig die Erkenntnis kam, daß dies ein Fehler sein mochte. Wahrscheinlich war auch mein Name – mein neuer Name – längst allseits bekannt.
    Zu meiner Erleichterung schienen die fünf Männer ihn jedoch zum ersten Mal zu hören. »Was tust du hier?« fragte der Steinmetz, offenbar Wortführer des kleinen Bautrupps. »Niemand darf die Baustellen betreten, solange hier gearbeitet wird. Anweisung des Vogts.«
    »Das wußte ich nicht.« Einen Augenblick lang erwog ich, mich als Ritter des Herzogs zu erkennen zu geben, dann aber verwarf ich den Gedanken. Im Genitium hatte wenig gefehlt, und die Frauen hätten sich mit bloßen Händen auf mich gestürzt. Nicht auszudenken, was diese Kerle mit ihren Werkzeugen anstellen mochten.
    »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Kerl«, donnerte der Steinmetz. »Was hast du hier zu suchen?«
    »Ich habe mich … verirrt«, erwiderte ich matt. »Laßt mich gehen, und ich will euch nicht weiter von Eurem Tagwerk abhalten.«
    »Unsere Arbeit ist für heute getan«, sagte der Anführer. »Es dämmert schon.«
    Großer Gott, wenn das die Wahrheit war, dann mußte ich mehr als den halben Tag hier verschlafen haben.
    Der Himmel hatte die Farbe verschimmelten Brotes angenommen, ein schillerndes Graugrün. Der Regen fiel ohne Unterlaß. Plötzlich hatte ich nur noch den brennenden Wunsch, mich auf den Weg zurück zur Herberge zu machen.
    »Wie kann man sich hierher verirren?« fragte einer der Tagelöhner zu recht. Hameln war nicht groß, und von hier aus waren die Hütten des Dorfes im Norden wie auch die Häuser der Reichen im Süden nicht zu übersehen. Ganz zu schweigen vom Turm der Marktkirche und den Holzzinnen der Mysterienbühne.
    »Gib du ihm die Antwort«, sagte der Steinmetz und wies mit dem Hammer auf meine Brust.
    Da traf ich eine Entscheidung.
    Mit gehöriger Schnelligkeit packte ich den Hammer mit beiden Händen, doch statt ihn dem Mann zu entreißen, stieß ich das Werkzeug nach hinten – dem anderen in den Magen. Mit einem Aufschrei krümmte er sich zusammen und stieß einen Schwall wilder Flüche aus. Die übrigen vier sprangen nach vorne und griffen nach mir, doch ich entging ihren zupackenden Händen mit einem gewagten Sprung aus dem Schatten der Mauer, mitten in eine gewaltige Schlammpfütze abseits der Holzstege. Verwünschungen brüllend setzten sie mir nach, einer nach dem anderen landete unter peitschenden Schlammfontänen im Dreck. Der Morast saugte an meinen Stiefeln, trotzdem gelang es mir, nach vorn zu

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