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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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springen. Links und rechts von mir schossen fette Ratten aus den Fluten und brachten sich vor Füßen und Schreien in Sicherheit. Ich erreichte ein Brett und balancierte darauf entlang eines schmalen Erdwalls zwischen zwei mit Wasser gefüllten Baugruben. Als die Männer es mir gleichtaten, rutschte prompt einer von ihnen ab und landete mit ausgebreiteten Armen im Brackwasser.
    »Jetzt erkenne ich ihn«, brüllte einer. »Es ist der Ritter. Der Ritter des Herzogs.«
    Darauf verdoppelten sie ihre Anstrengungen, meiner habhaft zu werden. In einigen Bauruinen zu beiden Seiten des wirren Netzes aus Fußbrettern reckten sich weitere Köpfe aus Fenstern und Gruben. Einige Männer ließen von ihrer Arbeit ab und nahmen gleichfalls die Verfolgung auf. Sie alle schrien Flüche und Drohungen, und nur ein Wunder mochte verhindern, daß andere Tagelöhner, die sich noch irgendwo vor mir befanden, meinen Weg versperrten.
    Tatsächlich gelang es mir, trockenen Boden zu erreichen. Eine schmale Schotterstraße führte am Ufer entlang und verband den Stiftsbezirk mit dem Dorf. Zweihundert Schritte weiter nördlich erkannte ich das Genitium. Genau vor mir lag der Fluß.
    Es blieb keine Zeit, zu zögern. Schritte und Rufe in meinem Rücken kamen immer näher und mehrten sich auf besorgniserregende Weise. Ich hatte vor der Hinrichtung des Ketzers erlebt, zu welcher Grausamkeit das Volk fähig war, und hegte keinesfalls den Wunsch, das erbärmliche Schicksal des Mannes zu teilen.
    So sprang ich mutig voran in den Fluß und versank. Die wilde Jagd hatte mir den Atem genommen, und schon nach Augenblicken mußte ich erneut auftauchen, um Luft zu holen. Da sah ich sie am Ufer stehen, zehn, fünfzehn Mann, mit grimmigen Mienen, Hämmer und Hacken in Händen haltend, bereit, mir sofort den Garaus zu machen. Zu meinem Glück verbargen mich Wellen und die anbrechende Dunkelheit vor ihrem Zorn. Ich tauchte sogleich wieder unter und schwamm unter Wasser nach Norden.
    Immer wieder nach Luft schnappend, gelang es mir, die Bootsdurchfahrt zu passieren und dahinter unbemerkt an Land zu gehen. Triefend und zutiefst in meinem Stolz getroffen schlich ich mich durch die engen Gassen zurück zur Herberge. Niemand schien mich auf dem Weg dorthin zu bemerken. Die meisten Menschen wärmten sich nach der feuchten Kälte des Tages in ihren Hütten. Vor den wenigen, die mir begegneten, verbarg ich mich in Torbögen und Eingängen.
    Schon von weitem hörte ich, daß der Schankraum der Herberge voller Menschen war. Sie lärmten und sangen, tranken und lallten, so daß es mir als ein zu großes Wagnis erschien, mich durch ihre Mitte zu bewegen. Ich umrundete das Haus und fand an seiner Rückseite eine schmale Holztreppe, die an der Außenwand hinauf ins obere Stockwerk führte. Sie endete vor einer morschen, niedrigen Tür, die schon auf einen leichten Druck hin nachgab und nach innen schwang. Gebückt trat ich ein und schob die Tür hinter mir zu.
    Der Gang, auf dem ich mich wiederfand, war dunkel. Unzweifelhaft handelte es sich um jenen Flur, an dem auch mein Zimmer lag, denn an seinem Ende erkannte ich im Boden das helle Rechteck, durch das es hinab in den Schankraum ging.
    Ich unterdrückte den Drang, vor Erleichterung aufzuatmen, als hinter mir die Schatten in Wallung gerieten. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie eine Gestalt auf mich zuschoß und mit einem langen Gegenstand nach mir ausholte. Ehe ich herumwirbeln und den Schlag abwehren konnte, traf er mich schon an der Schulter, nicht fest, auch nicht schmerzhaft, aber doch vollkommen unerwartet.
    Ich griff blind ins Dunkel und bekam einen Arm zu fassen, ein schmales Handgelenk. Mit der anderen Hand packte ich den dünnen Stock, mit dem man auf mich eingeschlagen hatte. Mein Gegner strampelte wild, und ich wollte eben ausholen und meinerseits zuschlagen, als sich meine Augen soweit an die Finsternis gewöhnten, daß ich erkannte, mit wem ich rang.
    Es war Maria. Ihr langes Haar war zerzaust, das hübsche Gesicht verzerrt, sei es von Schmerz oder Scham.
    Überrascht ließ ich sie los, sie stolperte vom eigenen Schwung getragen nach hinten und fiel auf ihr Hinterteil. Wie ein Tier in der Enge kroch sie in eine dunkle Ecke und blieb dort mit gesenktem Haupt sitzen, das Gesicht zwischen den Knien vergraben.
    »Um Himmels willen, was hast du?« fragte ich erregt, wenn auch leise genug, um kein Aufsehen in der Schänke zu erregen.
    Maria gab keine Antwort, nur ihr jagender Atem drang aus den Schatten. Ich hielt

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