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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Frühstück aus Brot und fetter Milch – weder Maria noch Dante zeigten sich – machte ich mich auf den Weg. Der Himmel war unverändert düster und schwer. Regen fiel ohne Unterlaß und setzte die Gassen noch tiefer unter Wasser. Abfälle und stinkende Ausscheidungen, sorglos aus Fenstern und Türen gekippt, trieben in Pfützen und Rinnsalen dahin. Mit ihnen schwamm klebriger Fäulnisgeruch durch die Straßen.
    Ich trug kein Zeichen meiner Ritterwürde am Leib, nur ein einfaches Hemd und Beinkleid, außerdem den Dolch. Alles andere hatte ich im Gasthaus zurückgelassen, mit dem Befehl an die Wirtin, sorgsam darauf achtzugeben. Doch trotz aller Schlichtheit hob ich mich allzu deutlich ab vom einfachen Volk in seinen zerlumpten, knielangen Tuniken über stoffumwickelten Beinen. Immer wieder trafen mich finstere Blicke. Eisige Ablehnung schlug mir entgegen. Zweifellos hatte sich meine Ankunft längst herumgesprochen.
    In den engen Gassen traten die Menschen zur Seite, wenn sie meiner gewahr wurden, doch war dies kein Zeichen von Ehrerbietung. Man mied mich, darüber konnte kein Zweifel bestehen, und mir fiel ein, was Graf von Schwalenberg gesagt hatte: »Hinter vorgehaltener Hand spottet das Volk über Euch.« Niemand lachte, aber mir war klar, was der Alte meinte. Glanz und Glorie des Rittertums waren dahin.
    Gelegentlich versuchte ich, einen Blick in eines der armseligen Häuser zu werfen, doch die meisten Fensterläden waren wegen des Regens geschlossen. Als ich scheinbar beiläufig an eine offene Tür trat, um hineinzusehen, vertrat mir ein schmutziger Kerl mit wildem Bart den Weg. Er stützte sich auf einen rohen Holzknüppel und sah mich herausfordernd an. Ich verstand die stumme Drohung und wandte mich ab; nicht, weil ich den Streit mit ihm fürchtete, sondern vielmehr, um mir nicht noch mehr Feinde zu schaffen, als dies meine Herkunft allein für mich tat.
    Am Flußufer wurde ich Zeuge einer Urteilsvollstreckung. Einem Dieb sollte die rechte Hand abgeschlagen werden. Einmal mehr offenbarten sich die seltsamen Herrschaftsverhältnisse in Hameln. Zwei Männer drückten den jammernden Verbrecher auf die Knie und hielten seinen Arm über einen Holzblock. Daneben stand ein alter Mann mit einem Beil, dessen Schneide er auf den Handknöchel des Diebes drückte. Zweifelsohne war dies der verrückte, herzogstreue Henker, den Schwalenberg erwähnt hatte. Ein weiterer Mann in der Kleidung eines bischöflichen Schergen holte in diesem Augenblick mit einem schweren Holzhammer aus und ließ ihn auf die stumpfe Seite des Beiles krachen. Dadurch trieb er die Schneide mit einem entsetzlichen Bersten durch den Knöchel des schreienden Diebes. Mit zuckenden Fingern stürzte die Hand in den Schlamm. Ein groteskes, grausames Schauspiel: Beide Seiten, Herzog wie Bischof, hatten das Urteil gemeinsam vollstreckt.
    Ich ging weiter, passierte zum zweiten Mal unter den mißtrauischen Blicken der Arbeiter das Hamelner Loch und gelangte schließlich zum Genitium.
    Das Gebäude war ein langgestreckter Fachwerkbau, dessen Hinterwand an den Fluß grenzte. Riesige Wasserräder drehten sich knarrend mit der Strömung. Über dem Eingang bemerkte ich ein Kreuz, an dem man fünf Borretschblüten befestigt hatte – schlichte Hausmannsmagie, die es Ehebrecherinnen unmöglich machen sollte, das Gebäude zu verlassen. Ich bezweifelte, daß die Tagelöhnerinnen Kreuz und Blüten aus freiem Willen angebracht hatten.
    Ich trat ein und sah mich zwei langen Reihen von Webstühlen gegenüber, an denen Frauen lautstark damit beschäftigt waren, grobe Wolle zu Kleidung zu verarbeiten. Der Lärm zahlloser Gespräche war ohrenbetäubend. Die Frauen, vielleicht drei Dutzend, trugen einfache Kleider und hatten die Haare mit Tüchern hochgebunden. Die Luft war gesättigt von Feuchtigkeit und Schweiß.
    Während ich mich noch umsah, übertönte plötzlich ein Ruf alle Gespräche und ließ sie verstummen:
    »Seht!«
    Im selben Moment wandten sich sämtliche Blicke in meine Richtung. Für endlose Herzschläge sagte niemand ein Wort. Alle starrten mich an, manche ausdruckslos, einige ablehnend. Das Surren der Webstühle brach ab, als alle Frauen auf einen Schlag ihre Arbeit ruhen ließen. Nur das Rauschen der Wasserräder an der Rückseite zerstörte die Vollkommenheit des Schweigens.
    Etwas Merkwürdiges war mit diesen Augen, die mich aus allen Richtung ansahen, als wollten sie mich kraft ihrer Blicke an die Tür nageln. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was

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