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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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näher, und schon verloren ihre Häuser und Stadtmauern die Winzigkeit des ersten Anblicks. Weite Wiesen legten sich im wilden Treiben des Regens hier in diese, dort in jene Richtung; sie waren alles, was die Ortschaft umgab bis hin zum Fuß der Hügelflanken. Hinter der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses, erkannte ich hohe Felsen, gekrönt von mehr und noch mehr Wald, drohend und düster über den Dächern.
    Während ich dem Ort nun näher kam, hob sich aus dem Dunkel der Stadtmauer etwas hervor, das ich mit blinzelnden Augen als hohe, mächtige Esche erkannte, der einzige Baum entlang der Flußaue, dafür um so kräftiger gewachsen und weitgefächert. An seinem Fuß hatte sich eine kleine Menschengruppe versammelt, zehn oder fünfzehn Gestalten. Etwas schien sie in große Aufregung zu versetzen, denn sie alle hatten die Blicke hinaufgewandt zu den knorrigen Ästen. Ab und an drang ein zorniger Ruf durch die wirbelnden Regenschwaden bis an mein Ohr.
    Da plötzlich wandelte sich das Dämmerlicht, der tintige Regenhimmel wurde hoch über der Stadt zerrissen, und ein feuerroter Schein brach durch die Wolkentürme. Wie ein gleißendes Auge hing die Öffnung inmitten des Unwetters. Feueröfen schienen sich aufzutun, Wiesen und Hügelflanken wurden für einen kurzen Moment in entsetzliche Glut getaucht, der Wind brüllte wie ein zorniges Biest hinab aus den Wäldern und ganz kurz schien es, als rase ein Dämonenheer mit glühender Wucht über die Mauern und Dächer. Flammenteufel schienen auf den Giebeln zu tanzen, als die Sonnenstrahlen ein letztes Mal über die Häuser sengten. Dann schloß sich das lodernde Maul am Himmel, und Zwielicht löschte die fauchenden Lohen. Alles war wieder wie zuvor, von Brand und Feuer keine Spur, nur Regen und Wind und wäßriges Grau.
    Mir war, als erwache ich aus einem neuerlichen Traum; ganz unwohl und zittrig waren meine Glieder. Doch nun war ich den Menschen am Fuß der Esche nahe genug, um einen einzigen, brausenden Ruf zu vernehmen:
    »Ein Zeichen!« schrie eine Stimme aus dem Gewimmel. »Gott will, daß er brennt.«
    »Ja, brennen soll er!« rief auch ein anderer. Im ersten Augenblick dachte ich, man meine den Baum, doch während meine Verwirrung sich mehrte, erkannte ich, daß ein Mann hoch oben in den Ästen saß, und ich begriff, daß allein er es war, dem man die Flammen zugedachte.
    Ich erwog, den Rappen zu schnellerem Schritt voranzutreiben, doch dann beließ ich es bei sanftem Trab. Es schien mir nicht ratsam, gleich bei meiner Ankunft in die Obliegenheiten der hiesigen Bürger einzugreifen; zudem erkannte ich unter den Männern am Fuß der Esche einige in Lederpanzern mit dem Wappen des Bischofs von Minden.
    Als mich nur noch eine kurze Entfernung von dem Auflauf trennte, sah ich, daß der Mann im Baum keineswegs aus freien Stücken dort kauerte. Tatsächlich war er mit groben Stricken ins Geäst gefesselt, an Füßen wie an Händen, in höchst mißlicher Stellung. Mich wunderte daher umso mehr das wilde Brüllen und Drohen der Menschen, er möge umgehend herunterkommen. Sahen sie denn nicht, daß er nicht freiwillig dort oben festsaß?
    Der Mann im Baum war ein grober, schmutziger Kerl mit wirrem Haar und vollem, dunklem Bart. Seine Kleidung war befleckt, der Stoff an manchen Stellen aufgerissen, das vermochte ich selbst durch Regen und Zweige zu erkennen. Barfuß war er wie ein Bettler. Sein Blick zuckte irre von einem zum anderen, und während seine Lage immer leidiger zu werden drohte, begegnete er der Wut der Bürger allein mit leerem Grinsen. War er vom Teufel besessen? Wollte man deshalb seinen Tod?
    Einer der Schergen des Bischofs legte jetzt seinen Knüppel ab und schob sich einen Dolch zwischen die Zähne. Unter dem Jubel der Umstehenden machte er sich daran, die Esche zu besteigen. Der schmutzige Kerl in der Baumkrone spuckte vor ihm aus und lachte.
    »Das wird dir noch vergehen«, brüllte ein anderer der Kirchendiener voller Abscheu hinauf. »Dein Scheiterhaufen steht bereit.«
    Der Zerlumpte antwortete mit neuerlichem Spucken, diesmal in die Richtung des Sprechers.
    »Sagt, was geht hier vor?« fragte ich den Bischöflichen, der zuletzt gerufen hatte.
    Er wandte sich erstaunt zu mir um, auch einige andere Köpfe drehten sich. Der Mann musterte mich einen Augenblick, dann bemerkte er das Wappen des Herzogs an meinem Sattel. Trotzdem fragte er dreist:
    »Wer will das wissen?«
    Ich schenkte ihm einen eisigen Blick. »Mein Name ist Robert von Thalstein,

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