Der Regler
dazu sagte.
Rainer Gritz hatte als Kind sehr viel und sehr gern gepuzzelt. Sich Stück für Stück einem Gesamtbild zu nähern, das begeisterte ihn. Er hatte nie jemandem bei der Polizei davon erzählt, noch nicht mal Maler. Es erschien ihm doch ein wenig zu banal. Als Kind puzzelst du, als Erwachsener jagst du Verbrecher.
Aber jetzt im Auto durfte er es ja denken, wie sehr ihm dieses Puzzle-Prinzip lag. Etwas abzuschließen, abzuhaken. In diesem Fall war es ihm besonders wichtig. Noch nie hatte er es mit derartigen Abgründen zu tun gehabt. Das Tagebuch der Nora Krabbe: Etwas Grausigeres konnte man sich nicht vorstellen. Eine durch und durch böse junge Frau, die durch und durch böse Dinge getan hatte. Und als sie draußen nichts mehr anrichten konnte, richtete sie das Böse gegen sich selbst. Es war aber gar nicht in erster Linie diese Grausamkeit, die Rainer Gritz so zu schaffen machte. Die ihn nachts nicht einschlafen ließ und ihn stundenlang an den Tisch in seiner kleinen Küche fesselte, mit einem Pfefferminztee nach dem anderen. Es war nicht die Brutalität, die ihn manchmal beinahe durchdrehen ließ. Es war das Gefühl von Unsicherheit in diesem Fall, das er nie losgeworden war: Was war Realität, was war Imagination? Was konnte man glauben, was sollte man glauben? Dieses Doppelspiel von Fakten und Suggestion – in der Welt eines Gabriel Tretjak konnte das alles nebeneinander stehenbleiben, solch ein Nebel war gewissermaßen seine Geschäftsgrundlage. In der Welt des Kriminalbeamten reduzierte es sich aber immer wieder auf eine simple Frage: Was stimmte und was nicht? Wann immer man bei dieser Geschichte gedacht hatte,
so muss es gewesen sein!
, war es anders gekommen. Wann immer man gedacht hatte, diesen Gabriel Tretjak verstanden zu haben, war etwas passiert, das die Lage wieder völlig veränderte. Der Mann blieb für Gritz eine undurchsichtige, rätselhafte Figur, der er nach wie vor alles zutraute.
Da war zum Beispiel die Sache mit dem Blut auf dem Gelände des Bauernhofes gewesen, Tretjaks Refugium, wo er in die Sterne schaute. Gritz hatte den Bauernhof absuchen lassen, nach allen möglichen Spuren. Sie fanden die Blutspuren, noch nicht mal ganz getrocknet. Gritz war sich sicher gewesen, dass diese Spur den Fall lösen würde. Am Tag darauf kam das Ergebnis aus dem Labor: Kaninchenblut, von einem frischgeschlachteten Tier. Was bitte war das für ein Mist?
Oder die Geschichte mit den Brüdern: Gritz hatte den Verdacht, dass es dieses Treffen der Brüder vor zehn Jahren überhaupt nie gegeben hatte. Vielleicht hatte die verrückte Nora Krabbe es dem alten Tretjak nur eingeredet, um seinen Zorn auf Gabriel neu zu wecken. Andererseits gab es seit genau dieser Zeit kein Lebenszeichen mehr von dem Bruder. Wo steckte er? Was machte er? War er beseitigt worden? Hatte er sich eine neue Identität verschafft? Was war wirklich und was nicht?
Gritz neigte nicht zu größeren Gefühlsausbrüchen, aber jetzt am Steuer, über all das sinnierend, schüttelte er sich. Nur noch ein paar Kilometer, dachte er, dann abschließen, abhaken. Endlich. Bitte. Oder musste es ein Wunsch bleiben? Konnte ein Puzzle funktionieren, wenn die Grenzen des Spielfelds dauernd verwischten?
Um 11 Uhr 07 erreichte er Bozen. Fünf Minuten schneller als vom Navigationsgerät ausgerechnet, dachte er. Es fing an zu schneien. Er hatte sich auf seinen Dienst- BMW noch Winterreifen montieren lassen, und Schneeketten hatte er auch dabei. Die Straße, die in das Dorf hinaufführte, war auf der Landkarte nur als dünner Strich vermerkt, aber sein Navigationsgerät sagte, er solle sie benutzen. Als er die Straße dann fuhr, dachte er: Navigationsgeräte wissen nicht, wie breit ein bayerischer
BMW sein kann.
Die Straße hinauf zum Ort Jenesien verlief durch den Wald, war sehr steil und sehr schmal und wurde immer steiler und schmaler. Er steckte wie in einer Röhre. Und es schneite stärker und stärker. Die Scheibenwischer stellte er auf die stärkste Stufe. Er hörte keine Musik mehr. Noch drei Kilometer, vermeldete das Navigationsgerät. Die Räder fingen an zu rutschen, aber noch zog der Wagen nach oben. Gritz hatte seinen Kommissarkollegen in Südtirol angerufen, ob er schon mal etwas gehört habe von diesem Adler-Mann. Der Kollege sagte, er müsse sich erkundigen, und rief einen Tag später zurück. Ja, einen solchen Mann gab es in Jenesien. Musste ein merkwürdiger Typ sein. Lebte in einer umgebauten Zitadelle, etwas abseits vom Dorf,
Weitere Kostenlose Bücher