Der Regler
weiß. Über dem Bett hing ein gerahmtes Schwarzweißfoto. Es zeigte den kleinen Hafen von Maccagno, wie er früher einmal ausgesehen hatte, vor hundert Jahren vielleicht. Langsam drang all dies in Charlotte Polands Wahrnehmung. Sie sah, dass das Stück Papier, das Tretjak entfaltet hatte, eine Art Pergamentblatt war, mit bunten Verzierungen am Rand, Wappen waren zu erkennen. Und sie hörte jetzt auch, was Gabriel Tretjak sagte.
Ein Shock-Novel-Reiz löst im menschlichen Gehirn immer auch einen zweiten Effekt aus: Wenn das schockierende Ereignis verdaut ist, wird die Abschottung aufgehoben. Dann tritt das Gegenteil davon ein: eine besonders scharfe Wahrnehmung all dessen, was passiert.
»Ich werde die Geschichte jetzt zu Ende bringen«, sagte Gabriel Tretjak. »Und dein Schweigen wird dir nichts nützen. Ich werde die Wahrheit erfahren. Alles, auch das: Hattest du eine Affäre mit meinem Vater?«
Charlotte Poland sah ihn an. Sie spürte ein Gefühl aufsteigen, das sie zunächst gar nicht identifizieren konnte. Aber dann wurde ihr klar: Es war der Drang zu lachen. War das seine Frage? War es das, was ihn quälte? Sie sah in seine Augen, der Drang zu lachen war vorbei. Nein, wollte sie sagen. Ich hatte nichts mit deinem Vater. Aber in diesem Moment begriff sie, dass sein Blick gar nicht ihr galt, sondern auf einen Punkt hinter ihr gerichtet war.
6
Die Gerichtsmedizinerin konnte Kommissar Maler nicht erreichen, sie hatte ihm schon zweimal auf die Mailbox gesprochen: »Herr Kommissar, bitte rufen Sie mich zurück, es gibt Neuigkeiten.« Merkwürdig, dachte sie, dass er sich nicht meldete. Normalerweise dauerte es nie mehr als zwanzig Minuten.
Dann schrieb sie eine Mail an Rainer Gritz. Sie erinnerte sich, dass er ihr einmal gesagt hatte, telefonieren Sie nicht mit mir, schicken Sie mir eine Mail, das geht schneller. Erstens, schrieb sie, liege nun das Ergebnis der erneuten Obduktion der Leichen vor. Um es kurz zu machen: Keine Giftspuren im Körper, die Messerstiche in die Leber und ins Herz blieben die alleinige Todesursache. Aus ihrer Sicht gebe es keinen Zusammenhang zwischen den drei Morden und dem gewaltsamen Tod des Bankbeamten.
Dann schrieb sie:
Zweitens: Mir ist eine Merkwürdigkeit aufgefallen. Keine Ahnung, ob sie etwas bedeutet. Ich habe noch einmal die
DNA -Proben von Paul Tretjak untersucht, die er nach seinem Selbstmord hinterlassen hat – und mit den Spuren auf den Leichen verglichen. Es ist zweifelsfrei auch dort die
DNA von Paul Tretjak, aber da ist noch etwas. In allen drei Fällen ist der
DNA etwas beigefügt, eine Art Massageöl, hochprozentig, eine Essenz davon.
Sie überlegte einen kurzen Moment, ob sie abschließend noch einen Satz hinzufügen sollte, ob sich jemand fragen würde, woher sie so etwas wusste, und dann schrieb sie:
Das ist diese Art von Öl, die häufig beim Sex verwendet wird.
7
Ich bin die Beste, das muss jetzt eben auch die Polizei lernen. Dieser Kommissar Maler soll ruhig kommen in seinem Bademantel. Du hast mich nicht erkannt, Gabriel. Was meinst du: Wäre alles anders gekommen, wenn du die Steuerprüferin angesehen und einfach meinen Namen gesagt hättest, wie damals auf der Terrasse?
Nora. Ballspielen, ja das machen wir.
Dimitri hat mich auch nicht erkannt, dieses Schwein. Er hatte aber auch nicht viel Zeit, das muss ich zugeben. Alte Männer sind so eitel, können es nicht ab, dass sie nichts mehr zu melden haben. Warum sonst hat er dem Kommissar von meinem Vater erzählt? Noch mal wichtig sein, noch mal mitspielen. Ist dir nicht bekommen, Dimitri. Auch dem musste Vater damals das Geld nachwerfen, damit er die Ermittlungen in Richtung der Russen erstickt. Vater war so verzweifelt, er hatte so große Angst vor diesen Russen, einmal hab ich ihn sogar weinen sehen. Was hätten sie mit ihm gemacht, wenn sie wirklich begriffen hätten, dass du alle reingelegt hast, abkassiert hast für nichts? Brasilien. Überlegst du noch, Gabriel? Brauchst du nicht mehr. Dein Geld ist schon auf dem Weg dorthin, habe ich heute erledigt. Aber es reist in meinem Namen.
Nora.
Erinnerst du dich?
Sie hörte seine Stimme durch die Tür. Er redete über das Blatt Papier, das sie ihm gegeben hatte, von dem sie gesagt hatte, sie habe es bei der Beerdigung in Charlotte Polands Handtasche gesehen und später beim Abendessen im Restaurant gestohlen. Er wusste wahrscheinlich nicht, welchen Wert er da in der Hand hatte. Aber das spielte alles keine Rolle mehr. Unten auf der Piazza hupte ein
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