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Der reiche Mann

Der reiche Mann

Titel: Der reiche Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihnen dem Klempner den Hals zudrücken wolle.
    Auch er hatte verstanden. Er hatte die Gewohnheit, die Lippen der Leute zu betrachten. Obwohl er taubstumm war, behauptete man, er habe die böseste Zunge im Dorf, denn über alles, was dort geschah, war er im Bilde.
    Lecoin hob die Hand, sah ihn an, aber diesmal zögerte der Taubstumme, zu gehorchen. Als Theo ihn so auf sich zukommen sah, machte er sich auf der Bank ganz klein, und die anderen setzten eine abwesende Miene auf.
    Mimile brach schleunigst das Schweigen.
    »Was halten Sie von dem?« fragte er, auf den Krug deutend. »Er kommt von François.«
    Lecoin antwortete ihm gar nicht. Es mußte etwas geschehen sein, das Theo Mut machte, ihm die Stirn zu bieten, und er fragte sich, was das sein konnte. Als jetzt Doudou drei oder vier Schritte auf sie zugegangen war, schwiegen die Kartenspieler, und man hörte nur: »Terz.«
    »Was für drei?«
    »Buben.«
    »Ich habe drei Könige. Belote.«
    Das entspannte die Atmosphäre ein wenig, aber Doudou blieb düster, und nur widerwillig, wie ein großer Hund, den man daran hindert, anzugreifen, hatte er sich wieder ans Ende der Theke gestellt. Auf der Reklameuhr war es zwölf, was bedeutete, daß es in Wirklichkeit erst dreiviertel zwölf war. Um neun Uhr war Ebbe gewesen, eine kleine Ebbe, aber trotzdem waren fast alle zu den Muschelbänken gegangen, und Lecoin hatte mit Doudous Hilfe Muschelkörbe gefüllt.
    Er begnügte sich aber nicht wie die anderen mit seinen Muschelbänken, sondern kaufte den anderen den Ertrag der ihren ab. Er kaufte nicht nur in Marsilly, sondern auch von den Leuten in Esnandes und Marans. Er hatte zwei Lastwagen, auf denen er die Muscheln nach La Rochelle brachte.
    Um seine Autorität zu behaupten, blickte er die Kartenspieler – äußerlich ruhig – etwas verächtlich an. Dann warf er ein paar Geldstücke auf die Theke und ging zur Tür, ohne daß diesmal jemand auch nur zu lächeln wagte. Doudou folgte ihm, und man merkte an seiner Haltung, daß er es bedauerte, daß er Theo nicht hatte zu Mus machen können.
    Lecoin war nicht der Bürgermeister des Ortes. Er war nicht einmal Ratsmitglied, aber er war der bedeutendste Mann, der reiche Mann, und alle beugten sich seiner Autorität.
    Theos Grinsen und die mysteriösen Worte, die er gesagt hatte, waren deshalb um so erstaunlicher. Gewiß, der Klempner machte sich über jedermann lustig, und man duldete es, weil er häßlich und nicht gesund war, ein schiefes Gesicht hatte und seine Lippen immer zuckten. Eugenie, seine Frau, kümmerte sich um den Laden, während er die meiste Zeit, vorausgesetzt, daß er Partner fand, beim Kartenspiel verbrachte.
    Heute hatte er zum erstenmal Lecoin herausgefordert, und dieser versuchte immer noch zu verstehen, warum. Hatte der kleine Mann wirklich versucht, ihn zum Äußersten zu treiben? Oder war er um Viertel vor zwölf schon so betrunken gewesen, daß er alle Vorsicht fahren ließ?
    Er kletterte in die Kabine des Lastwagens, in der Doudou automatisch wieder seinen Platz einnahm. Bis zum Kirchplatz waren es nur hundert Meter und weitere hundert Meter auf der Straße nach Esnandes bis zu seinem Haus.
    Der Lastwagen fuhr durch das Tor, und Lecoin steuerte ihn in die große Garage, in der der zweite Lastwagen, die Maschine, in der die Muscheln gewaschen wurden, und ein Peugeot standen.
    Wie immer ging er durch die Küche ins Haus und blieb auf der Schwelle stehen, überrascht, ein unbekanntes Mädchen vor sich zu sehen. Sie musterte ihn ebenfalls neugierig. Sie ahnte gewiß, daß er der Herr war, aber die Stulpenstiefel, die breiten Schultern und das Gesicht mit den sehr ausgeprägten Zügen schienen ihr nicht zu imponieren.
    Sie war ein hochgewachsenes Mädchen mit langen, dünnen Beinen, das ein schon sehr abgetragenes und darum glänzendes schwarzes Baumwollkleid anhatte, das ihm, weil es schon viel gewaschen worden war, nur noch bis zu den Knien reichte.
    Sie hatte sehr kleine Brüste, und ihr Gesicht war weder hübsch noch ausgesprochen häßlich.
    »Guten Tag«, sagte sie schließlich.
    »Guten Tag.«
    Nach einem Zögern fügte er hinzu: »Wie heißen Sie?«
    »Alice.«
    »Sind Sie fünfzehn?«
    »Sechzehn.«
    Er zuckte die Schultern und ging in den breiten Flur, in dem sich die Garderobe befand. Er zog Stiefel und Lederjacke, unter der er einen marineblauen Pullover trug, aus, stieß die Tür zum Büro auf, das auf den Hof ging und wo seine Frau Jeanne sich über Rechnungen beugte.
    Er ließ sich auf der

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