Der reiche Mann
1
Er hielt den Lastwagen voller Muschelkörbe gegenüber dem Bistro an, an dessen Fassade in gelben Buchstaben ›Chez Mimile‹ stand.
Auf der anderen Seite stieg Doudou, der Taubstumme, gleichzeitig mit ihm aus, folgte ihm leise auf bloßen Füßen. Die Beine der blauen Leinenhose hatte er wie immer hochgekrempelt. Victor Lecoin war groß, stark, breitschultrig und hatte einen mächtigen Brustkasten. Seine Stulpenstiefel aus Gummi erinnerten an die Stiefel der Musketiere, und wie immer trug er seine schwarze Lederjacke. Als er die Klinke herunterdrückte und die Tür aufstieß, war es ihm, als fülle er den ganzen Türrahmen aus, und in dem kleinen Café, in dem vier Männer am Fenster saßen und Karten spielten, wirkte er wie ein Riese unter Zwergen. Er winkte ihnen zu und murmelte: »Tag.«
Mimile wischte mechanisch mit dem Lappen über die altmodische Zinktheke und rief: »Tag, Chef!«
So nannten ihn alle, denn er überragte sie nicht nur körperlich, sondern war auch der reichste von ihnen.
Doudou war zum anderen Ende der Theke gegangen und hatte die Ellbogen aufgestützt.
Mimile, in Hemdsärmeln, schwarzer Weste und einer verblichenen blauen Schürze, stellte einen Krug Weißwein und ein Glas vor Lecoin auf die Theke, wie er das jeden Tag tat. Doudou trank weder Wein noch Schnaps, rauchte auch nicht, und man hatte ihn noch nie mit einem Mädchen zusammen gesehen. Mimile servierte ihm Limonade mit einem Schuß Grenadine wie einem Kind.
Von den Muschelbänken hätte Lecoin genausogut gleich nach Hause fahren können, wo immer ein Faß Wein angezapft war, und sein Wein war besser als der im Bistro. Diese Einkehr unterwegs aber war eine alte Gewohnheit. Hier kam er sich stark und sogar den anderen überlegen vor.
An der Theke stehend, wirkte er größer, breiter, schwerer denn je. Er sprach wenig, gestikulierte nie, selbst wenn er mit Doudou sprach, bei dem schon ein Blick genügte. Mit seinen dicken Fingern drehte er sich eine Zigarette und blickte uninteressiert zu den Kartenspielern hin, die jeden Tag dieselben waren.
Es waren Theo Porchet, Jo Chevalier, Louis Cardis und Marcel Lefranc, den das ganze Dorf den kleinen Marcel nannte. Theo war ebenfalls klein und schmächtig, schnitt immerzu Grimassen und verzog seinen Mund zu einem sarkastischen Lächeln. Er war der Komiker des Dorfes und legte viel Wert auf diesen Ruf.
Er blickte Lecoin ängstlich und frech zugleich an. Von Beruf war er Klempner. Er hatte einen Laden am Kirchplatz, fast gegenüber dem Lebensmittelgeschäft. Es gab dort fast alles; kleine elektrische Apparate, Petroleum, Sturmlaternen, Taue, und seit mehr als einem Jahr thronte in seinem Schaufenster eine Waschmaschine.
Lecoin war sofort aufgefallen, daß der kleine Mann erregt war und ihn immer wieder verstohlen beobachtete.
»Freunde, mir schwant, daß wir bald etwas sehr Drolliges erleben.« Er grinste und blickte zu den anderen hin, die aber nur lächelten. Lecoin runzelte seine dichten, struppigen Augenbrauen. Er verstand die Bemerkung des Klempners nicht und überlegte, worauf sie sich beziehen könne. Es mußte etwas Komisches sein, denn Jo Chevalier, der Muschelzüchter, der ihm noch vor einer Stunde sechs Muschelkörbe verkauft hatte, mußte krampfhaft ein lautes Lachen unterdrücken.
»Hast du sie gesehen?« fragte Jo.
»Sie ist um zwanzig nach acht mit einem Bündel kaum größer als eine Handtasche aus dem Bus gestiegen.«
»Ein schönes Mädchen?«
Lecoin war nicht ganz behaglich zumute; er spürte, daß man ihn aufs Korn nahm. Die anderen warfen ihm ängstliche Blicke zu.
Die Wände waren gelb gestrichen. Es hingen bunte Reklamebilder daran und außerdem in einem schwarzen Rahmen das Gesetz über Trunkenheit in der Öffentlichkeit. In der Küche, deren Tür einen Spaltbreit offenstand und deren Glasscheiben eine Tüllgardine zum Teil verhüllte, war Mimiles Frau eifrig tätig, wobei ihre dicken Brüste auf und ab schwappten.
»Sie braucht nicht schön zu sein.«
Diesmal lachten sie schallend, und Lecoin fühlte sich noch mehr aufs Korn genommen. Dennoch spürte man, daß es, außer bei Theo, kein unbefangenes Lachen war.
»Sie trägt einen Rock. Genügt das nicht?«
Und Theo blickte Lecoin fast herausfordernd an, wobei sich sein großer Mund spöttisch verzog. Da merkte Lecoin, daß sich neben ihm etwas bewegte, und er sah den Taubstummen leise mit ausdruckslosem Gesicht auf die anderen zugehen. Er hielt seine riesigen Hände so, als ob er mit
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