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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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ehebrecherisch zu erklären, die weiblichen Partner festzunehmen und mit der Begründung, daß sie als Erzieher moralisch ungeeignet seien, die Kinder, die sie bereits hatten, zu konfiszieren. Diese wurden dann von kinderlosen Ehepaaren der oberen Ränge adoptiert, die auf Nachkommenschaft um jeden Preis begierig waren. (In der mittleren Periode wurde diese Verfahrensweise auf alle Ehen ausgedehnt, die nicht innerhalb der Staatskirche geschlossen worden waren.) So war es den Männern mit hohem Rang im Regime möglich, unter denjenigen Frauen ihre Wahl zu treffen, die ihre Reproduktionsfähigkeit bereits durch die Geburt eines oder mehrerer gesunder Kinder unter Beweis gestellt hatten – eine wünschenswerte Eigenschaft in einem Zeitalter drastisch sinkender Geburtenraten bei den europiden Rassen, einem Phänomen, das übrigens nicht nur in Gilead, sondern in den meisten nördlichen europiden Gesellschaften der Zeit zu beobachten war.
    Die Gründe für den Geburtenrückgang sind uns nicht vollständig klar. Zum Teil kann diese Entwicklung zweifellos auf die breite Verfügbarkeit empfängnisverhütender Mittel verschiedenster Art, einschließlich Abtreibung, während der Periode, die Gilead unmittelbar vorausging, zurückgeführt werden. Ein Teil der Unfruchtbarkeit war damals also gewollt, was die unterschiedlichen statistischen Ergebnisse bei europiden und nicht-europiden Rassen erklären mag. Aber es gab auch ungewollte Unfruchtbarkeit. Muß ich Sie daran erinnern, daß dies das Zeitalter der Syphillis vom Typ R und ebenso der berüchtigten AIDS-Epidemie war, die sich so schnell über die ganze Bevölkerung ausbreitete und so viele junge sexuell aktive Menschen aus der Reproduktionsreserve hinwegraffte? Totgeburten, Fehlgeburten und genetische Mißbildungen waren weit verbreitet und noch im Zunehmen begriffen, ein Trend, der häufig mit den verschiedenen, für diese Zeit charakteristischen Unfällen, Ausfällen und Sabotageakten in Kernkraftwerken in Verbindung gebracht wurde, ebenso mit dem Austritt von Giften aus Lagern für chemische und biologische Waffen und Sondermülldeponien, von denen es, legal und illegal, etliche tausend gab – in einigen Fällen wurden diese Stoffe einfach ins Abwassersystem geleitet –, sowie mit dem unkontrollierten Gebrauch chemischer Insektizide, Herbizide und anderer Sprühgifte.
    Doch welche Gründe es auch gewesen sein mögen, die Auswirkungen waren beträchtlich, und das Regime von Gilead war nicht das einzige, das damals darauf reagierte. Rumänien, zum Beispiel, war Gilead bereits in den achtziger Jahren zuvorgekommen, indem es alle Formen der Geburtenkontrolle verbot, die weibliche Bevölkerung zu Schwangerschaftstests verpflichtete und Fruchtbarkeit mit Beförderungen und Lohnerhöhungen belohnte.
    Das Bedürfnis nach dem, was ich als Geburts-Service bezeichnen möchte, war schon in der vorgileadischen Periode erkannt worden, wo man ihm, unzureichend, mit »künstlicher Befruchtung«, »Fruchtbarkeitskliniken«, und der Benutzung von »Leihmüttern«, die für diesen Zweck angemietet wurden, begegnete. Gilead ächtete die beiden ersteren als irreligiös, legitimierte und forcierte jedoch die dritte unter Berufung auf biblische Präzedenzfälle. Auf diese Weise ersetzte man die chronologische Polygamie, wie sie in der vorgileadischen Periode üblich gewesen war, durch die ältere Form der Simultanpolygamie, die sowohl im Alten Testament als auch im ehemaligen Staat Utah im neunzehnten Jahrhundert praktiziert wurde. Wie wir aus dem Studium der Geschichte wissen, kann sich kein neues System in einem bestehenden durchsetzen, ohne viele der Elemente des letzteren zu übernehmen, wie es die heidnischen Elemente im mittelalterlichen Christentum und die Entwicklung des russischen KGB aus dem zaristischen Geheimdienst, der ihm vorausging, beweisen. Gilead war keine Ausnahme dieser Regel. Seine rassistischen Grundsätze beispielsweise waren fest in der vorgileadischen Periode verwurzelt, und Rassenängste sorgten für einen Teil des emotionalen Zündstoffs, der den Boden für die so erfolgreiche gileadische Machtübernahme bereitet.
    Unsere Autorin war also eine von vielen und muß innerhalb der groben Umrisse des historischen Augenblicks gesehen werden, von dem sie ein Teil war. Doch was wissen wir sonst über sie, abgesehen von ihrem Alter, einigen physischen Merkmalen, die Kennzeichen einer jeden Frau sein könnten, und ihrem Wohnort? Nicht sehr viel. Sie scheint eine gebildete

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