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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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Autorin ausgefüllt werden können, wäre ihr eine andere Denkweise eigen gewesen. Sie hätte uns viel über das Funktionieren des Gileadischen Imperiums mitteilen können, hätte sie das Gespür eines Reporters oder eines Spions besessen. Was gäben wir heute nicht für auch nur zwanzig Seiten Ausdrucke aus Waterfords Privat-Computer! Doch müssen wir dankbar sein für alle Krumen, welche die Göttin der Geschichte uns zu gewähren gedachte.
    Was das endgültige Geschick unserer Erzählerin betrifft, so bleibt es im Dunkeln. Wurde sie über die Grenzen Gileads in das damalige Kanada geschmuggelt? Und hat sie von dort ihren Weg nach England gefunden? Das wäre klug gewesen, da das Kanada jener Zeit sich seinen mächtigen Nachbarn nicht zum Feind zu machen wünschte und daher Razzien veranstaltete und solche Flüchtlinge auslieferte. Falls dem so war, warum nahm sie dann nicht ihre auf Band aufgezeichnete Erzählung mit? Vielleicht kam ihre Reise plötzlich; vielleicht fürchtete sie, abgefangen zu werden. Andererseits wurde sie womöglich erneut gefangen genommen. Falls sie wirklich England erreichte, warum machte sie ihre Geschichte nicht publik, wie es so viele taten, nachdem sie die äußere Welt erreicht hatten? Sie mag Vergeltungsschläge gegen »Luke« gefürchtet haben, in der Annahme, daß er noch am Leben sei (was höchst unwahrscheinlich war) oder auch gegen ihre Tochter; denn das Regime von Gilead war über solche Mittel keineswegs erhaben und benutzte sie, um negative Veröffentlichungen im Ausland abzuschrecken. Mehr als ein unvorsichtiger Flüchtling erhielt bekanntlich eine Hand, ein Ohr oder einen Fuß zugestellt, vakuumverpackt und per Express versandt, verborgen zum Beispiel in einer Kaffeedose. Aber vielleicht gehörte sie auch zu jenen entflohenen Mägden, die Schwierigkeiten hatten, sich an das Leben in der Welt draußen zu gewöhnen, als sie erst dort angekommen waren, nach dem behüteten Leben, das sie vorher geführt hatten. Vielleicht ist sie, wie diese Frauen, zur Einsiedlerin geworden. Wir wissen es nicht.
    Ebenfalls nur deduzieren können wir »Nicks« Gründe dafür, daß er ihre Flucht betrieb. Wir müssen annehmen, daß er selber in Gefahr schwebte, nachdem die Verbindung ihrer Gefährtin Desglen mit Mayday entdeckt worden war, denn wie er als Mitglied der Augen wohl wußte, würde auch Desfred mit Sicherheit verhört werden. Die Strafen für unerlaubte sexuelle Aktivitäten mit einer Magd waren streng, und auch sein Status als Auge bot ihm nicht notwendigerweise Schutz. Die Gesellschaft von Gilead war aufs äußerste byzantinisch, und jede Übertretung konnte von unerklärten Feinden innerhalb des Regimes gegen einen benutzt werden. Gewiß, er hätte sie selbst ermorden können, was vielleicht das klügere Vorgehen gewesen wäre, doch bleibt das menschliche Herz ein Faktor, und wie wir wissen, glaubten beide, daß sie vielleicht schwanger von ihm sei. Welcher Mann der Gileadischen Periode hätte der Möglichkeit der Vaterschaft widerstehen können? Nichts anderes roch so sehr nach Status, nichts anderes wurde so hoch gepriesen. Statt dessen rief er eine Rettungsmannschaft der Augen herbei, die authentisch gewesen sein mag oder auch nicht, aber in jedem Fall unter seinem Befehl stand. Indem er so handelte, mag er seinen eigenen Sturz bewirkt haben. Auch dies werden wir niemals wissen.
    Hat unsere Erzählerin die Welt draußen sicher erreicht und sich ein neues Leben aufgebaut? Oder wurde sie in ihrem Versteck unter dem Dach entdeckt, verhaftet und in die Kolonien oder in Jesebels Reich geschickt oder gar hingerichtet? Unser Dokument, obwohl auf seine besondere Weise so eloquent, schweigt sich darüber aus. Wir können Eurydike aus der Welt der Toten zurückrufen, aber wir können sie nicht dazu bewegen, Antwort zu geben. Und wenn wir uns umwenden, um sie anzuschauen, so sehen wir sie nur einen Augenblick lang, bevor sie unserem Griff entschlüpft und flieht. Wie alle Historiker wissen, ist die Vergangenheit ein großes Dunkel, und mit Echos gefüllt. Stimmen mögen von dort zu uns herüberhallen, doch was sie uns sagen, ist durchdrungen von der Dunkelheit des Bodens, aus dem sie kommen. Und wie sehr wir es versuchen mögen, es gelingt uns nicht immer, sie im klaren Licht unseres eigenen Tages genau zu entziffern.
     
    Applaus.
     
    Gibt es irgendwelche Fragen?

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