Der Retuscheur
früher oder später eine neue Lisa auftauchen würde. Er tarnte sich, versuchte den Eindruck zu erwecken, es gehe ihm darum, meinen Kummer und mein Leid zu lindem, als er alles über Lisa wissen wollte, mich bis ins Kleinste ausfragte.
Ich sprach mich aus. Vertraute mich meinem Vater an. Er war ein dankbarer Zuhörer. Lisas Bild verfing sich jedoch in den Worten, wurde konturlos, lief Gefahr, durch den geringsten Lufthauch zu zerfließen, sich gänzlich aufzulösen. Mein Vater zog es in sich hinein wie ein Strudel. Er erfasste den kritischen Moment mit feinem Gespür und sorgte für Durchzug: Eines Abends warf er sich in Schale, zog seinen neuen Sommermantel an, setzte sich seinen Hut keck aufs Ohr, verließ die Wohnung und kehrte kurz darauf mit einer Frau zurück.
Diese Frau – ich merkte sofort, dass es zwischen ihm und ihr eine Abmachung gab, dass sie und mein Vater ein mir zunächst unverständliches Schauspiel boten – war groß gewachsen, vollbusig, langbeinig. Sie rauchte – rauchende Frauen waren nach Aussage meines Vaters schlicht Teufelinnen –, lachte laut, ließ sich bereitwillig Sekt in ein hohes Kelchglas schenken, betrachtete mich mit leicht zusammengekniffenen Augen und stülpte die Unterlippe vor, sodass sich an ihrem Kinn gleich zwei Grübchen bildeten. Sie war mir unangenehm, duftete aber nach Veilchen, und auf der neben das Besteck hingeworfenen Serviette hinterließ sie den Abdruck ihres Lächelns.
Mein Vater goss nicht nur ihr, sondern auch mir ein, was früher nie geschehen war. Ich bekam einen Schwips. Mir drehte sich alles vor den Augen.
Mein Vater schaltete den Plattenspieler ein, und zum Gesang Robertino Lorettis begann ich mit dieser Frau zu tanzen. Der Veilchenduft – eine Erinnerung an das mit Glasperlen bestickte Täschchen – umfing mich. Sie knetete meine Schultern. Ich trat ungeschickt von einem Fuß auf den anderen, trat auch sie, sie machte »oi« und lachte wieder laut.
Wir setzten uns an den Tisch, und mein Vater füllte unsere Gläser nach. Unter dem Tischtuch legte sich ihre Hand wie zufällig auf meinen Schenkel, zog sich jedoch nicht zurück, sondern blieb, kroch höher.
»Ich gehe Zigaretten kaufen!«, sagte mein Vater und stand auf.
Sie drehte sich nicht einmal nach ihm um, ich wollte es tun, doch ihre Finger, die meine Hose aufknöpften, schienen sich in mich hineinwühlen zu wollen. Ich war bewegungsunfähig gemacht.
»Du hast doch welche …«, konnte ich ihm nur noch nachrufen.
Mein Vater klappte die Tür zu.
Was war mein Vater? Ein Monster? Ein Verrückter? Ein gefühlloser Tollkopf?
Weder das eine noch das andere noch das Dritte. Er war lediglich ein abgearbeiteter Fotograf eines Fachverlages. Ein Mensch, der gern gut aß. Und nach dem Essen gern ein Schläfchen machte. Ein Mensch, der gern einen trank, aber in Maßen. Der schöne Sachen liebte, sich gern gut kleidete. Wobei er oft zu Kleidungsstücken griff, die nicht neu waren. Er verstand sich darauf, in An-und-Verkauf-Läden unter lauter Plunder unfehlbar die überraschendsten Funde zu machen: einen deutschen Ledermantel, ein Jackett von Ted Lapidus mit Wildlederflicken an den Ellbogen, wer weiß wie in das Regal gelangte »Timberland«-Schuhe mit Kreppsohle und zweifarbigen Schnürsenkeln, dunkelgelb und schwarz.
Mein Vater hatte Geschmack.
Er wollte mich lediglich so erziehen, wie er es für nötig hielt. Wahrscheinlich hatte er ein Recht dazu. Umso mehr als es das Einzige war, was ihm blieb. In allem Übrigen hatte mein Vater nur Niederlagen aufzuweisen. Bei seinem Sohn wollte er keinen Misserfolg erleben. Er war ein von irgendeiner Furcht erfüllter, ein Geheimnis verbergender, sich plusternder Versager, der mir Selbstsicherheit und Vertrauen auf meine Kraft anzuerziehen suchte.
Nachdem ich von der NKWD/MGB-Vergangenheit meines Vaters erfahren hatte, davon, dass teure, gepflegte Nutten aus dem Flussrestaurant von nebenan ihm mit Ehrfurcht und Argwohn begegneten, dass er auch Menschen fotografierte, aber nur solche, denen er den Zutritt zu seinem Haus zu verweigern beabsichtigte oder mit denen zu verkehren für ihn unnütz geworden war, schöpfte ich Verdacht: Das Geheimnis seiner Tätigkeit in den Organen diente als Tarnung für ein anderes, bedeutsameres Geheimnis. Ich versuchte dahinterzukommen, ohne zunächst einen Anhaltspunkt zu haben.
Zweites Kapitel
Seine Karriere beim NKWD hatte mein Vater im Herbst des Jahres vierunddreißig begonnen. Am Ende eines nasskalten Tages betrat
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