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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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über den großen, am Kopf anliegenden Ohren hervorzukriechen schienen!
    Nur der Blick, der Blick über die Brille hinweg, blieb der alte. Die Welt besser machen, auf den Abzug drücken – ganz der verdiente Lehrer der Republik I. W. Petrow, der sich nach einem schweren Arbeitstag Erholung gönnt. Der strenge Hüter der heranwachsenden Generation. Abgeordneter und Verfasser pathetischer Artikel in der Lokalpresse.
    Mein Vater war kein verdienter Lehrer, kein Abgeordneter und Verfasser von Artikeln. Eine ermüdende Arbeit, die hatte allerdings auch er, als Fotograf im Verlag beim Ministerium für Erdöl- und Erdgasindustrie. Ein Fotograf von hohen Graden, der in seinem Fach buchstäblich über alles Bescheid wusste, es jedoch aus irgendeinem Grund – weshalb, ahnte ich damals nicht – tunlichst vermied, Lebewesen, insbesondere Menschen zu fotografieren, und dem es ein fragwürdiges Vergnügen bereitete, Kompressorstationen und Bohranlagen aufzunehmen.
    Er war auch kein I. W. Petrow.
    An dem Abend, als mein Vater von der Zeitung aufblickte, mich über seine Brille hinweg ansah und wie gewohnt abgehackt, mit unsicherer Betonung, kurz angebunden sagte: »Bleib heute zu Hause. Ich erwarte einen Kollegen von früher. Er muss helfen«, erfuhr ich, dass mein Vater, Genrich Rudolfowitsch Miller, ganz und gar nicht der war, für den er sich ausgab. Zumindest mir gegenüber, seinem Sohn, Genrich Genrichowitsch Miller.
    An diesem Abend erfuhr ich, dass mein Vater knapp zwanzig Jahre in den Organen tätig gewesen war – anfangs im NKWD – und auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen den Kosmopolitismus als angeblich unzuverlässiges Element aus dem MGB entlassen worden war.
    Bis zu jenem Abend, das heißt bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, war ich der infantil-romantischen Überzeugung gewesen, mein Vater sei ein ehemaliger Polarmeteorologe, der seine Arbeit aus Gesundheitsgründen hatte aufgeben müssen. Oder auch nicht aus Gesundheitsgründen (als ich langsam größer wurde, änderte mein Vater mehrfach die Version seiner Geschichte), sondern schon zu Kriegsbeginn, seines deutschen Vor-, Vaters- und Familiennamens wegen.
    Die Barometer, die hoch komplizierten Geräte, von deren wahrer Zweckbestimmung er, wie sich später herausstellte, rein gar nichts wusste, die Bücher über atmosphärische Optik, die Karten der Luftbewegungen jenseits des sechzigsten Breitengrades, die ganzen Dinge, die meinen festen Glauben an die Vergangenheit meines Vaters im Dienste der Polarforschung gestützt hatten – all das hatte er einem aus dem Lager zurückgekehrten, durchgedrehten, zahnlosen fünfundvierzigjährigen Greis abgekauft, der seinerzeit ein brillanter Dozent gewesen war. Mein Vater hatte einfach das Bedürfnis gehabt, diesem ehemaligen Dozenten zu helfen, als Ex-MGBler einem Exmeteorologen, als Sowjetmensch einem anderen Sowjetmenschen. Ihm zu ermöglichen, noch zwei, drei Jährchen zu leben.
    Vielleicht versuchte er damit, einen Teil der Schuld abzutragen, in der er bis über beide Ohren steckte? Kann sein, doch es sei gleich hinzugefügt, dass mein Vater nie einen Gedanken an irgendeine Schuld verschwendete.
    Er war kein böser Mensch, aber natürlich hart, hart wie ein Fels in einer schwer zugänglichen Gebirgsregion.
    Nichtsdestoweniger starb der Meteorologe ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr, und meinem Vater bereitete sein deutscher Vor-, Vaters- und Familienname keinerlei Schwierigkeiten bei seinem langen Dienst auf der Lubjanka {1} . Was, insgesamt betrachtet, gar nicht so seltsam ist: Der Kampf gegen den weltweiten Kosmopolitismus war noch bedeutungsvoller als der gegen den deutschen Faschismus. Das ist unbestritten. Die Ergebnisse sprechen für sich: Nachdem wir im zweiten Fall gewonnen und im ersten verloren haben, besitzen wir, was wir besitzen.
    Merkwürdig erschien mir, dass mein Vater, der häufig in Restaurants speiste, sie praktisch alle kannte, von den heruntergekommensten bis zu den teuersten, von den in den Vorstädten bis zu den zentral gelegenen, den Vorzug jedoch dem »Praga« gab, sich bei einem so wichtigen Treffen nicht für dieses Lokal entschied. Andererseits, hätte er sich mit seinem ehemaligen Kollegen im Restaurant getroffen, dann würde ich nichts erfahren haben und wäre vielleicht noch lange, lange Zeit ahnungslos geblieben – womöglich bis zu den letzten Monaten und Tagen, ja sogar bis zum heutigen quälend endlosen Abend.
    Im »Praga« hätte sein ehemaliger Kollege zwar Hasenbraten mit

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