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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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anderen drehte er das Papier rasch um und legte es auf den Tisch – es war ein Foto der Stenotypistin.
    »Das, Miller, ist die Rogosina. Sinotschka. Nimm die Lanzette!« Boris Vikentjewitsch stand über meinen Vater geneigt. »Mit wem rede ich, du Hund? Nimm! Nimm, und fang an!«
    Mein Vater griff widerstrebend nach der Lanzette.
    »Warum ich?«, fragte er.
    »Soll ich es sagen? Ich sag’s dir …« Boris Vikentjewitschs Hand legte sich sanft auf die Schulter meines Vaters. »Du bist allein geblieben. Dein Väterchen ist gestern hinübergegangen. Herzliches Beileid!«
    Meinem Vater blieb die Luft weg, doch da packte Boris Vikentjewitsch ihn beim Hals und bog ihn zum Tisch hinunter.
    »Fang an! Wenn du es hinkriegst … Wenn du es hinkriegst! Du ahnst noch nichts von deinem Glück, du Dämel!«
    So oder etwa so stelle ich mir jetzt die Anstellung meines Vaters beim NKWD vor. Er war überrumpelt worden, obwohl, Gründe zu bluffen hatte Boris Vikentjewitsch mehr als genug. Mein Vater hatte sich überfahren lassen, und danach kam er aus der Sache nicht mehr heraus. Die Organe, genauer gesagt, einige ihrer besonders scharf blickenden Mitarbeiter, brauchten ihn. Diese Mitarbeiter – es war kaum anzunehmen, dass Boris Vikentjewitsch die Initiative auf eigene Faust ergriffen hatte – beabsichtigten, sich die Gabe meines Vaters voll zunutze zu machen. Was sie auch taten.
    Als die von meinem Vater mitgebrachte Frau in meiner Hose herumfummelte, mir mit ihrem Gedrücke mehr wehtat, als dass ich Lust empfand, stellte ich mir die Geschichte des Dienstantritts meines Vaters allerdings etwas anders vor. Damals war ich noch nicht frei von meinen jugendlichen Illusionen – ob ich heute frei von Illusionen bin, ist eine andere Frage –, damals entsprach mein Verhältnis zu den Organen dem aller anderen: eine Mischung aus Angst und instinktiver Hochachtung. Meine Freunde, von deren Verwandten mindestens einer Repressalien ausgesetzt war, befanden sich merkwürdigerweise in derselben Verfassung.
    Gerade erst war ich Gericht und Gefängnis entgangen, gerade erst hatten sich meine Schulfreunde, die mit meiner Verurteilung gerechnet hatten – aus irgendeinem Grund wünschten sie mir das Unglück an den Hals –, einer wie der andere von mir abgewandt, und ich glaubte, mein Vater sei entweder vom Komsomol zu den Organen delegiert worden oder durch eine Anwerbungsaktion unter der Arbeiterjugend zu diesem Dienst gekommen.
    Doch mein Vater hatte weder dem Kommunistischen Jugendverband noch der Arbeiterjugend jemals angehört.
    Sein Vater und sein Großvater waren Fotografen gewesen, und der Fotografenberuf hatte sich auf ihn vererbt. Er hätte gar nichts anderes werden können: Es war schließlich eine Frage der Tradition, und selbst bei den ossifizierten Baltendeutschen galt der Wille der Eltern noch etwas. Mein Vater trat ebenso in die Fußstapfen seines Vaters, wie dessen Vater es seinerseits getan hatte.
    Mich jedoch versuchte mein Vater auf einen anderen Weg zu bringen. Jetzt ist mir klar – er befürchtete zu Recht, dass seine Gabe auf mich übergegangen war, so wie er sie von meinem Großvater geerbt hatte. Er befürchtete es, war aber im Grunde seines Herzens neugierig, was ich daraus machen und ob ich mich der damit verbundenen Bürde gewachsen zeigen würde.
     
    Mein Vater hatte seine Gabe zur Gänze genutzt. Dass er mir seine Fähigkeiten nicht wenigstens teilweise vererbt hatte, konnte er doch wohl nicht ernsthaft annehmen. Mir riet er, ein Studium am Institut für Erdöl und Erdgas aufzunehmen. Sehr wahrscheinlich, dass ich, hätte ich auf meinen Vater gehört, jetzt in irgendeiner Firma tätig wäre und Europa bereisen würde. Möglicherweise wäre meine Gabe dann zufällig, zu spät oder auch gar nicht manifest geworden.
    »Fotografierst du auch?«, erkundigte sich die Frau, die endlich meine völlige Apathie bemerkte.
    Sie zog ihre Hand auf den Tisch zurück und griff nach dem Glas.
    »Ja«, erwiderte ich. »Meinem Vater gefällt das bloß nicht. Er möchte nicht, dass ich Fotograf werde.«
    »Sondern?« Sie nahm einen Schluck Sekt.
    »Er will, dass ich … dass ich Ingenieur werde.«
    »Ein guter Beruf!« Sie grinste beifällig und zündete sich eine »Femina« an, die sie in ein Bernsteinmundstück gesteckt hatte.
    Ich hätte auch gern geraucht, hatte aber Angst, dass mein Vater zurückkommen und mich dabei ertappen könnte. Sie schnippte mir die rote Zigarettenschachtel hin. Als hätte sie meine Gedanken

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