Der Retuscheur
…«
»Woher kamen dann die Messer?«
»Die da hatten welche …«
»Schon gut …«
Der ehemalige Kollege zog eine Schachtel »Kasbek« aus der Tasche, nahm eine Papirossa heraus, klopfte mit dem Mundstück auf den Schachteldeckel. »Und wie ist alles passiert?«
»Ich habe einem das Messer abgenommen und zugestochen. Jemanden habe ich getroffen.«
»Jemanden?«
»Es war dunkel … Lisa versuchte uns zu trennen … Dann ging sie zu Boden. Mit vorgehaltenem Messer, so, bin ich losgestürzt …«
»Und hast noch einmal getroffen?«
»Ja.«
»Richtig«, sagte der Besucher, wobei er sich seine Papirossa anzündete, »ein offenes Geständnis ist das Beste.«
Mein Vater sprang hoch und packte mich bei den Schultern.
»Was redest du da, du Dummkopf?!« Er hauchte mir scharfen Kognakdunst ins Gesicht.
»Die Wahrheit«, sagte ich leise.
»Lass ihn.« Der ehemalige Kollege winkte träge mit der Hand ab, in der er die Papirossa hielt.
Mein Vater setzte sich und senkte den Kopf, dann fuhr er auf und schob seinem ehemaligen Kollegen einen Aschenbecher hin.
»Waren sie betrunken?«, wollte der von mir wissen.
»Ja.«
»Und ihr? Wie viel hattet ihr getrunken?«
»Drei Flaschen trockenen Wein.«
»Was hast du der Miliz gesagt?«
»Die Unwahrheit …« Ich fühlte, wie ich rot wurde.
»Gut.« Der ehemalige Kollege drückte seine Papirossa aus und deutete auf sein Glas. Mein Vater beeilte sich, es zu füllen. »Geh.«
Ich rührte mich nicht von der Stelle.
»Geh.« Er hatte das Interesse an mir schon verloren. »Geh, geh. Wir klären das!«
Der Mann ohne Hals half: Alles wurde einem der Angreifer angehängt. Er sei so betrunken gewesen, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Die Aussagen seiner Kumpel änderten sich wie von Zauberhand. Gegen mich hatte auch noch Bai, Maxim Baibikow, mein Busenfreund und Nachbar, ausgesagt, wofür ich damals eine einfache Erklärung fand: Auf diese Weise rächte er sich dafür, dass Lisa meine Freundin war. Die Übrigen – Kostja Wolochow und zwei Mädchen aus der Parallelklasse – hatten nichts gesehen: Als die Prügelei anfing, waren sie weggerannt. Mit Bai wurde auch gesprochen, Druck auf seinen Vater ausgeübt, und Bai schloss sich den anderen an – »Es war dunkel, ich habe nichts gesehen« –, um mich machte er seitdem jedoch einen großen Bogen.
Obwohl der ehemalige Kollege meines Vaters, wie ich mich erinnere, versprochen hatte, hin und wieder bei uns vorbeizukommen, erschien er nie wieder in unserem Haus. Ich erkundigte mich nicht nach ihm, und mein Vater erzählte nichts von ihm.
Geboren und aufgewachsen bin ich in einer Männerwelt, zu der Frauen praktisch keinen Zugang hatten. Meine Mutter starb, als ich gerade mal drei Monate alt war, und als ich anderthalb Jahre wurde, zog meine Amme, eine auf unserem Treppenabsatz wohnende Nachbarin, fort zu dem neuen Dienstort ihres Mannes, um mit meinem Milchbruder irgendwo in der Taiga für immer verloren zu gehen. Und so kam es, dass bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr nicht eine Person weiblichen Geschlechts über die Schwelle unseres Hauses trat, abgesehen von den Ärztinnen aus der Kinderpoliklinik – kränklich war ich nicht, doch keine Kinderkrankheit blieb mir erspart –, meiner Klassenlehrerin und Vaters Schwester, einer hageren, flachbrüstigen alten Frau, die ausschließlich selbst gedrehte Papirossy rauchte, und als die Mundstücke alle waren, gab sie das Rauchen auf und schied bald schon dahin, leise, im Schlaf.
Sofern sich mir das schemenhafte Bild meiner Mutter in der Seele doch eingeprägt hatte – es heißt, die Leute erinnern sich an alles, können bloß die Erinnerung nicht in sich wachrufen –, dann so tief, dass ich weder in meiner Kindheit noch in meiner Jugend noch im reifen Alter imstande war, es hervorzuholen. Ich musste mir meine Mutter ausdenken.
Als Ausgangspunkt diente die kleine mit Glasperlen bestickte Handtasche, die ich im oberen Fach des Kleiderschranks entdeckte. Sie duftete ganz leicht nach Veilchen, und dieser Duft verstärkte sich, als ich auf den winzigen Verschlussknopf drückte. In einem Innentäschlein, in seidener Gefangenschaft, steckte ein vierfach gefaltetes Blatt Papier.
Behutsam, mit einem Schauer begann ich das Blatt auseinanderzufalten, in der vagen Hoffnung, es könnte sich um einen Brief handeln, einen Brief meines Vaters an meine Mutter, geschrieben noch vor meiner Geburt, ja noch bevor sie Mann und Frau geworden waren, und möglicherweise übergeben, als
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