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Der Retuscheur

Der Retuscheur

Titel: Der Retuscheur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Stachow
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sie sich kennengelernt hatten. Oder einen Brief meiner künfti gen Mutter an meinen Vater. Kurz gesagt, um ein Zeichen, und sei es ein völlig unbedeutendes.
    Auf der leicht angerauten blassgelben Oberfläche des Blattes erkannte ich den Abdruck eines weiblichen Mundes. Meine Finger öffneten sich unwillkürlich, das Blatt entglitt ihnen und schwebte zu Boden.
    Ich schloss die Augen. Als hätte ein flüchtiger Kuss meiner Mutter soeben – schmatz! – meine Lippen berührt. Ich kniete nieder und beugte mich über das Blatt. Der Fußboden war feucht, es war noch nicht lange her, dass ich ihn gewischt hatte.
    Meine Schulterblätter traten unter der blassen Haut hervor, mein in spartanischem Geist dressierter magerer Knabenkörper erinnerte gewiss an eine zusammengepresste Feder. Ich öffnete die Augen. Dieser blassrosa Mund – die Frau, von der der Abdruck stammte, musste meine Mutter gewesen sein, die auf diese Weise Lippenstift abgetupft hatte – war zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
    Zaghaft griff ich nach dem Blatt, doch bevor ich es berühren konnte, spürte ich mit dem Hinterkopf den Blick meines Vaters.
    Ich zog meine Hände zurück.
    »Zu wem betest du da?«, fragte mein Vater.
    »Zu niemandem«, erwiderte ich.
    Mein Vater trat näher, sein Schatten verdeckte meine zusammengekrümmte Gestalt.
    »Ah!«, sagte mein Vater, und »Chypre«-Duft umfing mich, als er sich herunterbeugte. »Wo hast du das her?«
    Das Blatt verschwand zwischen seinen dünnen, knotigen Fingern. Ein paar rasche Bewegungen, der weiche Laut von zerrissenem Papier, und auf den Boden rieselten Schnipsel. Mein Vater streifte sich die Hände ab, als wäre das zerrissene Blatt mit einer zähen Flüssigkeit getränkt gewesen, beugte sich wieder herunter, griff nach dem Täschchen, richtete sich auf.
    »Heb sie auf!«, befahl er und deutete mit der Spitze seines Hausschuhs auf die Schnipsel des Lächelns. »Zieh dich an und komm essen!« Damit wandte er sich ab und ging zur Küche.
    Ich stand mit einem Ruck auf: Mein Vater wartete nicht gern.
     
    Ich bin nicht in einer Männerwelt schlechthin groß geworden, sondern in einer Welt ausgewählter Männer. Über ihre Auswahl, Taxierung und Rangfolge bestimmte, versteht sich, mein Vater. Von welchen Kriterien er sich dabei leiten ließ, ist mir immer unverständlich geblieben. Er machte sich nicht die Mühe zu erklären, warum ein Mensch, der jahrelang sein bester Freund zu sein schien, unversehens seine Sympathie verlor, während ein anderer, mit dem er zufällig auf der Straße oder im Laden bekannt geworden war, fortan ständig eingeladen wurde. Einige von denen, die nach der willkürlichen Entscheidung meines Vaters Zutritt zu dieser Welt bekamen, konnten den Eindruck gewinnen, dass er den Tod seiner Frau allzu gleichmütig hingenommen hatte: Sie hatte sozusagen die ihr auferlegte Rolle erfüllt, ein Kind empfangen, ausgetragen, zur Welt gebracht und danach aufgehört, notwendig zu sein. Sie war spurlos verschwunden. Weder ein Foto noch irgendwelche Gegenstände gab es von ihr. Das Täschchen war nun auch verschwunden.
    Wer diesen Eindruck gewann, ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit kam.
    Hinter dem Tod meiner Mutter – hätte es doch nur für ihn gegolten! – stand ein Geheimnis. Alle Geheimnisse, alle Knoten und Knötchen, alle Fäden führten zu meinem Vater. Sie unterschieden sich nach Größe, Stärke und Bedeutung. Sie umgaben ihn wie ein Kokon. Er ruhte darin wie ein seltsames Insekt, das sich auf den abschließenden Akt seiner Metamorphosen vorbereitet, selbstgefällig, streng, einsam. Wie der letzte Vertreter einer aussterbenden Art, der nur dazu lebte, dass die Art, besser gesagt, die Gattung, nicht aufhörte zu existieren.
    Ich wartete von Tag zu Tag darauf, dass mein Vater wenigstens ein Geheimnis preisgab, wenigstens das harmloseste, um mich dann in immer abgründigere Dinge einzuweihen. Das geschah nicht, ich scheute mich, als Erster die Sprache darauf zu bringen, danach zu fragen, als Erster den Schritt zu tun, und dachte, die Zeit sei einfach noch nicht gekommen.
     
    Doch langsam wurde ich größer und fühlte mich von meinem Vater immer mehr eingeengt. Wozu dieses Eingeengtsein nötig sein sollte, konnte ich nicht recht verstehen. Ich spürte nur den Druck, die aufdringliche Bevormundung meines Vaters, der auf jeden meiner Schritte ein wachsames Auge hatte. Die Grenzen waren fließend, unbestimmt. In dem einen Fall wurde mein Handeln gutgeheißen, in einem anderen,

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