Der Ring des Sarazenen
immer Kraft. Salim hatte ihr nicht nur ein Schmuckstück vermacht, nicht nur ein simples Erinnerungsstück, damit sie ihn nie vergaß. Neben allen anderen Bedeutungen, die dieser Ring haben mochte, war er für Robin vor allem ein Quell unerschöpflicher Kraft und Zuversicht. Naida hatte Recht gehabt, als sie ihr vorgehalten hatte, sich ihr Opfer nicht gut genug überlegt zu haben. Solange sie diesen Ring hatte, war ein Teil von Salim immer bei ihr, und damit auch ein Teil seiner Kraft.
Noch lange nach Sonnenuntergang stand Robin am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Irgendwann rief der Muezzin vom Minarett der nahen Moschee das Abendgebet, und im Haus wurde es still. Robin sparte sich die Mühe, zur Tür zu gehen. Die beiden Sklavinnen, die ihr das Abendmahl gebracht hatten, hatten sie hinter sich wieder verriegelt, und draußen stand nun auch wieder ein Wächter.
Die Rufe des Muezzins verstummten, und ringsum erwachte nicht nur die Stadt, sondern auch das Haus wieder zum Leben. Aber die Geräusche waren gedämpft. Hinter den meisten Fenstern, die sie von ihrem Zimmer aus sehen konnte, brannte kein Licht mehr. Der Tag war für alle hier anstrengend gewesen, zweifellos würde man sich an diesem Abend früher als gewöhnlich zur Ruhe legen. Jeder im Haus wusste, dass die Versteigerung noch nicht zu Ende war und der kommende Tag ebenso anstrengend werden würde wie der zurückliegende.
Aus der Nacht drang der Schrei eines Raubvogels an ihr Ohr, ein dünner, schriller Ruf voller Wildheit und Zorn, und Robin fragte sich, ob es derselbe Falke war, den Harun ihr gezeigt hatte, und ob dieser Schrei vielleicht bedeutete, dass er in eben diesem Moment die beiden freigelassenen Vögel entdeckt hatte. Ihr Blick glitt über den zerbrochenen Käfig, der noch immer auf dem Boden lag, und sie gestand sich ein, dass sie die beiden kleinen Tiere vermutlich dem sicheren Tod ausgeliefert hatte. Aber vielleicht, dachte sie, waren sie ja glücklich gestorben. Vielleicht hatten sie zum ersten Mal seit Monaten ihre Flügel ausbreiten können, und wenn es so war, dann war dieses Opfer den Preis wert gewesen, denn ein einziger Tag der Freiheit zählte hundertmal mehr als ein ganzes Leben in Ketten.
Der Gedanke war naiv, romantisch und dumm, aber er gab ihr Kraft. Robin atmete noch einmal tief ein, ging zur Tür und schlug zweimal mit der flachen Hand dagegen. Einen Moment lang geschah nichts, dann aber hörte sie ein unwilliges Rumoren, und Schritte, die sich der Tür näherten. Das Geräusch des Riegels, der zurückgeschoben wurde, blieb jedoch aus.
Robin schlug noch einmal, heftiger jetzt, mit der flachen Hand gegen die Tür und wich einen halben Schritt zurück. »Öffne!«, rief sie mit lauter, befehlender Stimme. »Ich habe eine Nachricht für Omar! Es ist wichtig!«
Ihr Herz klopfte. Ihre Hände und Knie begannen leicht zu zittern, aber zugleich machte sich eine sonderbare, grimmige Entschlossenheit in ihr breit. Sie hatte noch keinen wirklichen Plan, ja, sie wusste nicht einmal genau, was sie tun würde, wenn die Tür jetzt aufging. Aber der Gedanke an die Vögel hatte ihr für diesen Augenblick Kraft gegeben. Wenn sie heute nicht floh, würde sie es nie mehr tun.
Wieder vergingen endlose Momente, und Robin fragte sich, ob sie nicht bereits den ersten und womöglich auch schon entscheidenden Fehler gemacht hatte. Was, wenn der Mann nicht die Tür öffnete, sondern gleich zu Omar ging, um ihn zu rufen? Dann aber hörte sie das Scharren von Metall auf Holz, und die Tür wurde mit einer unwilligen Bewegung aufgestoßen. Das düsterrote Glühen einer Fackel drang ins Zimmer und schien die Dunkelheit mehr zu unterstreichen, als zu vertreiben.
»Was willst du?«, fragte der Wächter grob.
Robin antwortete nicht. Stattdessen machte sie einen Schritt rückwärts, um ihn ganz zu sich hereinzulocken, und der Mann tat ihr auch den Gefallen. Vor dem dunkelroten Hintergrund hob er sich wie ein schwarzer Scherenschnitt ab, aber Robin konnte zumindest erkennen, dass seine Hände, abgesehen von der Fackel, leer waren. Anscheinend hatte er Schild und Speer draußen gegen die Wand gelehnt. Er ging ja nur zu einer Sklavin, einem halben Kind dazu, das für ihn keine Gefahr darstellte.
Robin wartete, bis er einen weiteren Schritt auf sie zutrat. Und dann geschah alles erschreckend schnell. Sie hatte noch immer keinen Plan, keine Idee, wie sie diesen Mann überwältigen sollte, der zwei Köpfe größer als sie und mindestens fünfmal so
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