Der Ring des Sarazenen
Wahrscheinlich werden sie den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben.« Er deutete auf einen Falken, der um das Minarett der nahen Moschee kreiste.
»Aber zumindest haben sie ihre Flügel noch einmal gebrauchen können«, erwiderte Robin trotzig.
»Um in den Tod zu fliegen«, sagte Harun. Er seufzte erneut. »Ich sehe schon, deine Ausbildung ist noch lange nicht zu Ende. Ich fürchte fast, sie hat noch nicht einmal richtig begonnen.«
Robin jubilierte innerlich. Endlich war es ihr gelungen, Harun zu erschüttern. Und mit dem grässlichen Schmerz, der noch immer in ihr wühlte, hatte sie Gefallen an diesem Gefühl gefunden. Mit erhobener Stimme wandte sie sich an Aisha: »Was ist mit dir, Aisha?«, fragte sie. »Willst du wirklich lieber den Rest deines Lebens mit einem goldenen Schleier vor dem Gesicht verbringen und diesem alten Mann zu Diensten sein, statt in Freiheit und unter dem Schutz eines christlichen Fürsten zu leben?«
Aisha schwieg und sah sie mit einem Ausdruck sonderbarer Trauer in den Augen an. Für einen Augenblick senkte sich eine fast beklommene Stille über den Raum, in den nur die Stimme des Versteigerers vom Hof hereindrang, der gerade einen Sklaven anpries. Schließlich gebot Harun Aisha mit einer Geste, den Schleier abzunehmen. Die Sklavin zögerte. Sie hob gehorsam die Hände ans Gesicht, doch ihre Finger zitterten, und der Blick, den sie Harun zuwarf, war fast flehend. Harun lächelte auf eigentümliche Weise und Robin konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Lächeln gleichzeitig eine Bitte um Vergebung war. Er wiederholte seine Geste und endlich kam Aisha dem Befehl nach. Ihre Hände zitterten immer stärker, als sie nach dem schweren, mit winzigen Goldplättchen geschmückten Schleier griff, der ihr Gesicht verhüllte.
Als sie ihn ablegte, stieß Robin einen erschrockenen Schrei aus. Sie prallte entsetzt zurück und stieß so heftig gegen den Vogelkäfig, dass er nun doch vom Tisch fiel und zerbrach. Aber das bemerkte sie kaum. Ihr Blick hing wie gebannt an Aishas Gesicht.
Unter dem goldbesetzten Schleier kam nicht das Gesicht jener exotischen Schönheit zum Vorschein, das der sinnliche Ausdruck in ihren wunderschönen Augen versprach, sondern nur eine grausam verwüstete Landschaft aus Narben und verbranntem Fleisch.
»Was…?«, stammelte Robin. Sie schlug die Hand vor den Mund, um einen weiteren Aufschrei zu unterdrücken.
Harun gab Aisha mit einer Geste zu verstehen, den Schleier wieder anzulegen, was sie auch hastig tat. In der gleichen Bewegung wandte sie sich um, als schämte sie sich des Anblickes, den sie bot. Robin war schockiert. Aishas Haltung passte so gar nicht zu der stolzen, anmutigen Frau, die sie manches Mal insgeheim bewundert hatte. Plötzlich begriff Robin, warum der Blick der Sklavin manchmal so leer erschien, als weilten ihre Gedanken in unerreichbarer Ferne.
Harun sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, ließ einen kurzen Moment verstreichen und wandte sich dann mit ernstem Gesicht und noch ernsterer Stimme wieder an Robin. »Es waren deine ruhmreichen, gütigen Christenfreunde«, sagte er. Der Klang seiner Stimme stand in krassem Gegensatz zur bitteren Wahl seiner Worte. Er sprach ganz ruhig, fast sanft. »Es war ein Ritter aus dem Gefolge des Rainald von Chatillion, des Fürsten von Oultrejordain, ein Kämpfer für Euren Glauben. Leisten Eure Ritter nicht den Eid, die Schwachen zu schützen?«
»Aber das… das…«, stammelte Robin.
»Aisha war seine Sklavin, als er ihr das angetan hat«, fuhr Harun unbeirrt fort. »Er wollte ihr Gewalt antun. Als sie sich wehrte, da nahm er eine Fackel und verbrannte ihr das Gesicht, damit kein anderer Mann Gefallen an dem haben sollte, was ihm verwehrt geblieben war. Du solltest wissen, dass ein guter Mensch zu sein nichts mit dem Glauben zu tun hat, Christin. Denke darüber nach. Das ist deine heutige Lektion.«
10. K API T EL
Robins Entschluss, zu fliehen oder bei dem gescheiterten Versuch zu sterben, wurde im Verlaufe des Tages fast zur Besessenheit. Die Sklavenauktion dauerte bis zum Einbruch der Dämmerung an. Nachdem Harun und Aisha gegangen waren, kostete es Robin all ihre Kraft und Überwindung, wieder ans Fenster zu treten und dem entsetzlichen Schauspiel weiter zuzusehen. Doch nachdem sie es einmal getan hatte, konnte sie sich von dem entwürdigenden Anblick auch ebenso wenig wieder losreißen. Sie stand den ganzen Tag am Fenster, wandte sich weder um, als die Sklavinnen
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