Der Ring
sein. Als ich Julian vom Hang aus beobachtet habe, war er höchstens fünfhundert Meter entfernt.
Für einen Moment kehre ich dem Wind den Rücken zu und ziehe die Kapuze weit über den Kopf, doch der Schnee zwängt sich durch die Spalten und in meine Augen. Und das Wetter verschlechtert sich weiter. Ich harre noch ein paar Sekunden aus, um dieses Gefühl – die stechende Kälte, das Rauschen der Luft – für später abzuspeichern. Als ich mir vorstelle, mein Abenteuer in ein paar Minuten mit dem Pod zu teilen, wird mir wieder etwas wärmer.
Weiter. Ich stapfe über den glatten Schiefer, einmal rutsche ich aus und lande auf dem Knie. Plötzlich endet das Plateau in einem Fluss aus grauem Schnee. Ich kann mich nicht erinnern, diese Formation vorhin gesehen zu haben. Kein Wunder, begreife ich im nächsten Moment, vor kurzem gab es sie noch gar nicht. Eine Lawine hat Hagar Julian unter sich begraben.
Trotz der beißenden Kälte bleibe ich einfach stehen. Was jetzt?
Als ich einen Fuß auf die grauweiße Fläche setze, kracht es unter meinem Stiefel. Noch vor einer Stunde war hier eine freie Senke, nun ist sie angefüllt mit Eis und Felsbrocken. Ich frage mich, ob ich mit einem weiteren Lawinenabgang rechnen muss, doch in dem Schneegestöber ist die Felswand über mir nicht zu erkennen.
Es geht leicht bergauf. Zehn Meter weiter entdecke ich einen halb verschütteten Stofffetzen. Sofort zerre ich daran, aber er bewegt sich keinen Millimeter.
»Julian!« Die wirbelnden Flocken dämpfen meine Stimme. »Julian!«
Keine Antwort. Ich hätte sie wohl sowieso nicht gehört, es sei denn, Julian hätte mir direkt ins Ohr gebrüllt.
Ich nehme die Hände aus den Taschen, um die Pads an meinen Handgelenken freizulegen. Vielleicht spüre ich ja etwas, zumindest den Hauch eines Pheromons? Nein, nichts, nur beißende Kälte. Ein Kokon aus Eis und Schnee umgibt mich, ich bin vollkommen isoliert. Wie die eine von Julian, die es zu unserem Lager geschafft hat.
Es hilft nichts. Allein und ohne entsprechende Ausrüstung werde ich Julians Leichen nie finden. Und Überlebende hat es sicher nicht gegeben, wie auch? Bis auf die eine.
Als ich mich abwende, entdecke ich einen schwarzen Fleck auf dem verwischten Grau. Ein kleiner Fleck, fast hätte ich ihn übersehen.
Ich drehe mich um, gehe einen Schritt darauf zu – und erkenne einen Arm. Sofort lasse ich mich fallen und kratze an Eis, Schnee und Steinen. Ich hoffe, ich bete, dass der Arm zu einem lebendigen Menschen gehört.
In großen Brocken räume ich den Schnee beiseite und kippe ihn hinter mich, den Hang hinunter. Bald habe ich den Oberkörper freigelegt, kurz darauf den Kopf, der in eine Kapuze gehüllt ist. Ich fasse den Verschütteten unter den Achseln und ziehe mit aller Kraft, aber die Beine wollen sich nicht bewegen. Nachdem ich kurz durchgeschnauft habe, klappe ich die Kapuze zurück. Es ist ein männlicher Teil von Julian. Stirn und Wangen sind übersät von rosa Flecken, die Augen geschlossen, aber die Flocken vor seinem Mund bewegen sich. Heißt das nicht, dass er atmet? Sicher bin ich mir nicht. Ich lege meine Pads an seinen Hals, schmecke aber keine Pheromone, nichts. Ich taste nach dem Puls.
Nichts.
Verzweifelt versuche ich, mich an das korrekte Vorgehen bei Herzstillstand zu erinnern. Moira wüsste Bescheid, Quant auch, sie alle wüssten, was jetzt zu tun ist. Nur ich weiß gar nichts. Wie immer.
In meiner Panik packe ich ihn einfach am Oberkörper und zerre noch einmal mit aller Kraft. Irgendwie muss ich ihn aus dem Schnee herausbekommen, aber was ich auch tue, es hilft nichts. Halbherzig wische ich ihm ein paar Flocken von den Hüften. Das hat doch alles keinen Sinn. Ich bin nutzlos. Meine Kraft ist nutzlos.
Ich weiß nicht mehr weiter.
Immerhin habe ich ihn mittlerweile bis zu den Knien freigelegt. Als ich ein letztes Mal ziehe, schießt er in einem Schauer aus Schnee und Geröll aus dem Loch. Um ein Haar wäre ich nach hinten umgekippt.
Ich knie mich neben ihn und krame wieder in meinem Gedächtnis. Was tut man bei Herzstillstand? Frustriert stopfe ich meine roten, brennenden Hände in die Taschen. Allein ist mit mir nichts anzufangen. Moira an meiner Stelle …
Auf einmal weiß ich, was zu tun ist – als hätte Moira mir eine komprimierte Erinnerung geschickt. Druck auf das Brustbein ausüben und Mund-zu-Mund-Beatmung. Die Atemwege frei machen, fünfmal drücken, einmal beatmen, fünfmal, einmal, und immer so weiter.
Also lege ich die Hände auf die
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