Der Ring
lockern. Dann renne ich nebenher, bis ich einen Baum entdecke, einen Baum neben dem Sturzbach. Schnell stolpere ich darauf zu und schwinge mich einmal, zweimal um den Stamm. Die Schnur ist gesichert.
Mit zusammengebissenen Zähnen halte ich mich fest. Sofort spannt sich die Spinnenseide, bis sie maximal gedehnt ist.
Meine Beine pressen sich gegen den Stamm, ich stemme mich dagegen und klammere mich an die Rinde, um nicht mit meinem Pod in den Abgrund gerissen zu werden.
Für einen Augenblick gewinnt die Panik die Oberhand. Wäre das so schlimm?, flüstert sie mir ins Ohr. Was ist besser, mit dem Pod zu sterben oder allein weiterzuleben, als nutzloser Singleton? Noch vor ein paar Minuten hätte ich mich am liebsten in die Lawine geworfen.
Nein, ich darf nicht aufgeben. Julian, ein Teil von Julian, braucht mich noch. Also kralle ich mich fest und warte, bis das Grollen nachlässt.
Die Sekunden verstreichen. Eine Minute, zwei. Ich klammere mich noch immer an den Stamm. Schließlich kommt die Schneeflut ins Stocken, ich spüre, wie der Druck auf meine Arme nachlässt. Trotz der eisigen Luft sind meine Wangen nass vom Schweiß, während meine Hände vor Erschöpfung zittern. Als sich die Schnur endlich lockert, lasse ich mich fallen und bleibe regungslos liegen, an den Baum gelehnt. Ich kann nicht mehr. Erst nach ein paar Minuten bringe ich die Kraft auf, den Knoten an meinem Anorak zu lösen, aber die Spinnenseide will sich einfach nicht aufzwirbeln. Mit meinen zerschundenen, zittrigen Fingern brauche ich ewig, um die Fäden zu entwirren.
Als ich aufstehe, falle ich sofort wieder hin.
Ich reibe mir Schnee ins Gesicht, um mich zu kühlen, ehe ich begreife, dass ich es dadurch nur noch schlimmer mache. Beim nächsten Versuch gelingen mir ein paar Schritte, bevor meine schlotternden Beine wegknicken.
Der Schnee ist schön weich. Wie ein Federbett. Ich beschließe, mich ein bisschen auszuruhen. Nur ganz kurz.
Wie leicht es wäre, jetzt einzuschlafen. Nichts leichter als das.
Aber ich schlafe nicht ein, denn der Julian braucht mich noch. Jetzt sind wir beide Singletons, und ohne mich ist er verloren. Ich bin stark, ich kann ihn den Berg hinunter tragen.
Bevor ich gehe, werfe ich einen letzten Blick auf die Schnur. Am anderen Ende hängt mein Pod, aber wie soll er die Sturzflut überlebt haben? Trotzdem setze ich einen Fuß auf das Trümmerfeld, das die Lawine hinterlassen hat – doch ein Schwall Schnee lässt mich sofort zurückweichen. Die Düne weiter oben ist noch äußerst instabil. Mit nackten Fingern reibe ich mir die Augen, wende mich ab und folge dem Pfad, den ich gepflügt habe, als ich den Hang hinuntergeschleift wurde. Eine Blutspur zieht sich durch das Weiß. Als ich mich an Lippen und Nase berühre, sind meine Finger rot.
Der Julian hat sich nicht von der Stelle bewegt. Ob er noch atmet? Ja! Ich heule laut auf und flenne wie ein kleines Kind. Ich bin Kraft? Von wegen.
Mit einem Mal schlägt er die Augen auf und sieht mich an. Seine Zähne klappern. »Warum … warum … weinst du?«
»Weil wir noch am Leben sind.«
»Gut«, meint er und lässt den Kopf in den Schnee fallen. Seine Lippen sind blau angelaufen, seine Zähne klappern immer lauter. Selbst ich weiß, was das zu bedeuten hat: Er steht kurz vor der Hypothermie. Wir müssen ihn dringend ins Krankenhaus bringen. Wir …
Immer noch denke ich wie ein Pod. Aber Manuel wird mir nicht helfen, ihn zu tragen, Quant wird mir nicht helfen, die optimale Route ins Tal zu finden. Ich bin allein. »Wir müssen los.«
»Nein.«
»Du musst dich aufwärmen, du brauchst einen Arzt.«
»Und mein Pod?«
Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich ihm schon sagen? »Die anderen sind irgendwo unter uns begraben.«
»Ich kann sie riechen. Hören.«
Ich schnuppere. Ja, vielleicht liegt der Hauch eines Gedankens in der Luft. Vielleicht auch nicht. »Wo?«
»Ganz in der Nähe. Ich muss sie finden. Hilf mir auf.« Der Julian streckt einen Arm aus, ich ziehe ihn hoch, er kommt ächzend zum Stehen. Auf mich gestützt macht er einen unsicheren Schritt nach vorne und deutet auf etwas.
Auf den halbverschütteten Stofffetzen, den ich zuvor entdeckt hatte.
Immerhin hat er einige Minuten unter dem Schnee überlebt. Es wäre also durchaus denkbar, dass sein Pod noch irgendwo in der Tiefe gefangen ist, vielleicht in einer Luftblase oder in der Eishöhle, die sie ausgehoben hatten.
Ich gehe in die Knie und schaufle den Stofffetzen frei. Der Julian rollt sich neben
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