Der Ring
von Hagar Julian. Nur eine. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie kommt mit entblößtem Kopf angerannt, ihre Kapuze schlenkert nutzlos um den Hals. Mich sieht sie gar nicht, aber ich fange sie auf und halte sie fest. In ihrer blinden Panik wäre sie wahrscheinlich unmittelbar an uns vorbeigelaufen, in die Dunkelheit und vielleicht direkt in den felsigen Abgrund.
Sie riecht fremd. Mit Gewalt zerre ich ihr die Kapuze über die Haare. Bei extremer Kälte muss man unbedingt den Kopf bedeckt halten, weil er am meisten Wärme abstrahlt – den Kopf und auch die Hände. Vielleicht haben die Lehrer deshalb beschlossen, unsere letzte Prüfung in den Bergen abzuhalten, wo die Organe, die uns erst zum Pod werden lassen, praktisch nutzlos sind.
»Was ist los?«, frage ich sie. »Was ist passiert?«
Sie hechelt vor sich hin, sie verströmt pure Angst. Ich weiß nicht, was ihr in diesem Moment mehr zu schaffen macht, die Abspaltung von ihrem Selbst oder was auch immer gerade vorgefallen ist. Aber ich weiß, dass Julian ein sehr eng verbundener Pod ist, der sich nur im absoluten Notfall trennt.
Um uns herum ist tiefschwarze Nacht, ich kann weder O’Tooles Feuer noch Julians Eishöhle erkennen. Kaum zu glauben, dass sie es bis hierher geschafft hat.
Ich hebe sie hoch, lege sie über die Schulter und trage sie vorsichtig durch die Schneedünen bis zu der Lichtung um unser Zelt. Sie zittert am ganzen Leib. Die vielen Fragen meines Pods ignoriere ich einfach, dafür ist jetzt keine Zeit. Quant schlägt die Plane vor dem Eingang zurück.
Aus den Handschuhen der Fremden rieselt Schnee. Blaue Hände kommen zum Vorschein, über die ich schnell meine eigenen Handschuhe stülpe. Auch ihre Stiefel und ihren Anorak befreie ich sorgfältig vom Schnee. Über meinen Pod, der sich augenblicklich um uns versammelt, kann ich auf Informationen über Erste-Hilfe-Maßnahmen zugreifen.
Hypothermie.
Zittern, Orientierungsschwierigkeiten, keine Reaktion auf Ansprache – lauter Symptome einer starken Unterkühlung. Die Desorientierung könnte allerdings auch mit der Trennung von ihrem Pod zusammenhängen.
Sie muss ins Krankenhaus.
Eine von uns schaut auf das Funkgerät in der Ecke. Jetzt die Lehrer zu rufen, wäre ein Eingeständnis der Niederlage.
Ich blicke der Fremden in die Augen. »Wo sind die anderen von dir?«
Sie sieht mich nicht mal an.
Also schnappe ich mir eine Spule Spinnenseide und knote das eine Ende an meinen Anorak.
Nein!
Doch. »Irgendwer muss nachschauen, was mit dem Rest passiert ist.«
Wir dürfen uns nicht trennen. Nicht jetzt.
Ich will hierbleiben, ich will mich mit meinem Pod vereinigen, einen Konsens suchen. Und einfach auf Rettung warten.
Aber das geht nicht. Ich muss los. »Passt auf, dass sie nicht auskühlt. Am besten, ihr wärmt sie mit euren Körpern. Aber wärmt sie nicht zu schnell auf.«
Schnell öffne ich den Zeltausgang, klettere ins Freie und versiegele die Plane wieder. Quant schlüpft mit mir nach draußen.
»Sei vorsichtig. Es fängt an zu schneien«, mahnt sie, während sie mir das andere Ende der Schnur abnimmt und an einen der D-Ringe an unserem Zelt bindet. Der Faden verdreht sich zu einer Kordel und näht sich automatisch zusammen. Ich bin froh, dass sie das für mich erledigt hat, denn so muss ich meine nackten Hände nicht aus den Anoraktaschen nehmen.
»Ich bin immer vorsichtig.«
Der Wind treibt mir Schnee ins Gesicht, ich spüre eiskalte Nadelstiche auf den Wangen. Zusammengekrümmt versuche ich, die Spuren der Fremden zu verfolgen. Aber ich muss mich beeilen, die ersten Stiefelabdrücke sind bereits halb verschüttet. Durch die dahinjagenden Wolken scheint ein fahler Mond, der die Gebirgslandschaft in ein graues Licht taucht. Grau in grau. Weiter, sage ich mir, konzentrier dich auf deine Aufgabe. Und denk nicht daran, dass du deinen Pod zurückgelassen hast. Trotzdem zähle ich meine Schritte, damit ich immer weiß, wie groß der Abstand zwischen uns schon geworden ist. Schritte zählen, das wäre typisch Quant. Ein beruhigender Gedanke.
Als ich kurz aufschaue, um die Fährte nicht zu verlieren, schlägt mir frostige Luft ins Gesicht und vereist meine Nasenlöcher. Die Kälte tut weh, wie ein penetranter Kopfschmerz, und der Wind trägt keinen Geruch mit sich, keine Nachrichten von Hagar Julian.
Ich stoße auf ein geborstenes Schieferplateau. Hier muss sie entlanggekommen sein, denn die Fußabdrücke enden unmittelbar vor der kantigen Steinplatte. Jetzt kann es nicht mehr weit
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