Der Ritter von Rosecliff
... Aber wollte sie ein so erbärmliches Leben führen? Nur von der trügerischen Hoffnung leben, die Engländer eines Tages doch aus ihrer Heimat vertreiben zu können? Würde sie nie eine eigene Familie haben, auf Mutter-freuden verzichten müssen?
Der Schrei einer Eule riss sie aus ihren trüben Gedanken. »Ah, das ist Rhys!«, rief Garic mit vollem Mund.
»Hallo, Freunde!« Rhys und Daffydd traten aus dem Wald auf die Lichtung, und sofort hob sich die allgemeine Stimmung. Der attraktive junge Mann strahlte eine unglaubliche Vitalität aus, die ansteckend wirkte. Er hasste die Engländer mit einer Intensität die den Hass aller anderen bei weitem übertraf. Eine schlimme Kindheit und eine noch schlimmere Jugend hatte ihn früh zum Mann heranreifen lassen. Obwohl er drei Jahre jünger als Rhonwen war, kam er ihr viel älter als sie selbst vor. Er war inzwischen auch größer und stärker als sie, kämpfte und dachte wie ein erwachsener Mann. Trotzdem hatte sie in ihm immer noch den wilden, schmutzigen jungen gesehen, der früher ihr erbitterter Feind gewesen war.
Sie betrachtete ihn mit nachdenklich gerunzelter Stirn. Er hatte breite Schultern und muskulöse Beine. Seine zerlumpte Kleidung änderte nichts daran, dass er gut aussah. Vielleicht könnte seine körperliche Nähe sie genauso erregen wie die des Engländers ...
In der Vergangenheit hatte er zwei ungeschickte Annäherungsversuche gemacht - das erste Mal mit dreizehn, als er neugierig auf Frauen wurde, das zweite Mal mit fünfzehn, als ihn sexuelle Wünsche plagten. Beide Male hatte Rhonwen ihn zurückgestoßen und ausgelacht. Aber jetzt sollte sie ihm vielleicht eine neue Chance geben.
Rhys musste ihre forschenden Blicke gespürt haben, denn seine schwarzen Augen wandten sich ihr zu. Wider Willen verglich sie ihn mit Jasper Fitz Hugh, und dieser Vergleich fiel natürlich zu seinen Ungunsten aus. Der Engländer war nicht nur größer und muskulöser - das könnte sich in den nächsten Jahren ändern, denn Rhys war ja noch nicht ganz erwachsen. Es gab jedoch andere Unterschiede zwischen den beiden Männern: die Augen, die Haare, das ganze Auftreten. Jasper strahlte Charme und entspannte Selbstsicherheit aus. Rhys wirkte immer verbissen.
Aber sie wollte ja gar keinen Mann wie Jasper, rief sie sich streng zur Ordnung.
Rhys grinste, als sie nicht wegschaute, und sobald er Fenton das tote Reh übergeben hatte, schlenderte er auf ihre Bank zu und nahm neben ihr Platz.
»Na, was hat dich heute in die Wälder geführt Rhonwen? Hat dein Stiefvater dich wieder belästigt?« Er hob drohend eine geballte Faust. »Wenn ja, werde ich ihn von dieser Angewohnheit kurieren! «
Sie schaute ihm tief in die Augen. »Das würdest du wirklich für mich tun?«
»Ich würde ihn sogar umbringen, wenn du mich darum bittest«, schwor Rhys feierlich.
»Das dürfte kaum notwendig sein.«
»Darüber werde ich entscheiden.« Er packte sie am Arm. »Hat er dich wieder belästigt? Ja oder nein?«
»Nein, ich bin heute nicht wegen meines Stiefvaters hergekommen.« Rhonwen entzog ihm ihren Arm und runzelte die Stirn, als sie Blutspuren auf ihrem verblichenen Ärmel entdeckte. »Schau, was du angerichtet hast!«, rief sie vorwurfsvoll. »Geh und wasch dich, Rhys. Du bist verdreckt von der Jagd. «
Sein Gesicht spiegelte Verwirrung wider, und sie konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Er hatte sich damit abgefunden, dass sie ihn wie einen jüngeren Bruder behandelte, aber durch ihren langen Augenkontakt hatte sie eindeutig gegen die Regeln verstoßen. Sollte sie den Schutzwall schnell wieder errichten?
Nein, sie hatte sich vorgenommen, ihm eine Chance zu geben ... Sie holte tief Luft und fragte lächelnd: »Möchtest du vielleicht einen Becher Bier?«
>>Ja ... nein ... ja«, stammelte Rhys. »Ich werde mich waschen, und danach ... äh ... wir könnten zusammen essen, wenn du Lust dazu hast.«
Als er' nach wenigen Minuten zurückkam, hatte er sich Gesicht und Hände geschrubbt die Haare mit Wasser geglättet und ein sauberes Hemd angezogen. Rhonwen war gerührt über seine Bemühungen, ihr zu gefallen. Und sie war verblüfft, dass ein einziger inniger Blick von ihr Rhys zu solchem Eifer angespornt hatte. Waren alle Männer so leicht zu beeinflussen? Übten Frauen eine solche Macht aus?
Sie musste das herausfinden, und Rhys war der einzige Mann, mit dem sie experimentieren konnte. Deshalb holte sie ihm einen Becher Bier, lächelte und schaute ihm wieder tief in die Augen.
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