Der Roman eines Konträrsexuellen
sie hat kein gutes Gedächtnis, und ihre einzige Entschuldigung ist ihre große Güte. Dennoch ist sie in gewissen Dingen herrisch und willkürlich, und niemand kann ihr etwas ausreden, das sie sich in den Kopf gesetzt hat. Ich denke immer, daß das einer der Vorzüge oder Fehler der Rasse ist, von der sie abstammt und für die ich keine Sympathie, ja sogar einen geheimen Widerwillen empfinde. Dennoch liebe ich meine Mutter, doch in meiner Phantasie hätte ich sie mir anders gewünscht – ein Gefühl, das ich sehr bedaure und mir stets zum Vorwurf mache.
Ich bin zehn Jahre nach meinem letzten Bruder geboren, und zwar, als der älteste Sohn 14 Jahre zählte. Meine Geburt war ein tiefer Schmerz für meine Mutter, welche hoffte, sie würde nach drei Knaben eine Tochter bekommen. Doch ich war hübsch und zierlich wie ein kleines Mädchen, und man erzählt mir oft, daß die, die mich mit meinen schönen goldenen Locken und meinen schönen blauen Augen in den Armen meiner Mutter sahen, stets sagten: »Aber es ist ja nicht möglich, daß das ein Junge ist!«
Wenn meine Amme mich sieht, erzählt sie mir immer, die Frauen ihrer Bekanntschaft hätten mir den Beinamen »kleine Madonna« gegeben, so zierlich und zart war ich. Ich besitze noch ein Porträt im Alter von zwei Jahren und kann versichern, daß man sich wirklich kein schöneres Kind denken kann.
Die ganze Familie war sehr stolz auf mich, besonders meine Mutter. Mein Verstand erwachte sehr früh, und ich wurde von jedermann als ein kleines Wunder betrachtet. Ich war damals allein im Hause, denn meine Brüder waren in einer Nachbarstadt in einem Internat. Ich war sehr stolz auf den Zauber, den ich ausübte, und ein so kleines Kind ich auch war, so errötete ich doch vor Vergnügen, wenn ich meine Schönheit rühmen hörte. Ich erinnere mich noch, wie ich vor Freude und Vergnügen zitterte, wenn ich in meinem kleinen bauschigen Kleide aus blauem Pique mit blauen Schleifen und mit meinem großen italienischen Strohhut ausging.
Als ich vier Jahre zählte, nahm man mir meine kleinen Kleider, um mir Hosen und ein kleines Jackett anzuziehen. Wenn man mich als Jungen gekleidet hatte, empfand ich eine wahre Scham – ich erinnere mich, als wäre es heute – und lief schnell fort, um mich zu verstecken und in dem Zimmer meines Kindermädchens zu weinen, die, um mich zu trösten, mich wieder als Mädchen ankleiden mußte. Man lacht stets, wenn man sich an das verzweifelte Geschrei erinnert, das ich anstellte, wenn man mir meine kleinen weißen Kleider nahm, die mein Glück bildeten. Es war mir, als nehme man mir etwas, das stets zu tragen mir bestimmt war.
Das war mein erster großer Schmerz.
II. Kindheit – Erste Verirrungen
Mit fünf Jahren wurde ich zur Schule geschickt, blieb dort aber nur einige Wochen, da unser Hausarzt bemerkte, daß ich blaß und kränklich wurde, wenn ich zu lange auf der Schulbank saß. Als ich sieben Jahre alt war, zogen wir um und wohnten von da an in Florenz. Die Geschäfte meines Vaters gingen hervorragend, und wir besaßen eine herrliche Kutsche, Lakaien und ein schönes Haus, wo mein Vater alles versammelte, was man sich an Schönem und Elegantem nur vorstellen kann. Für mich wurde damals eine Lehrerin eingestellt, und ich empfand bald eine äußerst lebhafte und überschwengliche Freundschaft für diese Frau, die sehr vornehm war und mich sehr liebte. Ich schätzte sie weit mehr als meine Mutter, die deswegen sehr eifersüchtig war. Sie versuchte mit allen Mitteln, mich von der Lehrerin zu trennen, hatte damit aber keinen Erfolg. Mit meinen sieben Jahren war ich als Junge so charmant, wie ich als Kind schön gewesen war. Meine Intelligenz setzte alle, die mit mir zu tun hatten, in Erstaunen. Ich war voller Bewunderung für alles, was schön und prächtig war, und entwickelte eine wahre Leidenschaft für all die schönen Frauen und Königinnen, deren Geschichten ich mit meiner Lehrerin las.
Heftig bewunderte ich die Französische Revolution, und als ich eines Tages eine Kurzfassung der »Geschichte der Girondisten« von Lamartine fand, verschlang ich sie innerhalb weniger Stunden. Nachts träumte ich davon, und ich wollte gar nicht aufhören, über diese großartige Epoche in der Geschichte Frankreichs zu reden. Marie Antoinette, Elisabeth, die Prinzessin Lamballe waren meine großen Leidenschaften. Die Helden und Heldinnen aus dem Volke liebte ich weniger, hegte ich doch stets eine grenzenlose Bewunderung für die Heroinen und die
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