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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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zum Land abschneiden, so daß er für eine Weile allein gehen mußte. Doch dieser weiße Junge konnte mit solcher Macht und Kraft lügen, daß die Schaben mit ihrem winzigen Verstand ihm glaubten. Und so huschten sie los, Hunderte, Tausende, unter den Wänden hindurch in das andere Zimmer.
    Alvin Junior hörte etwas und war entzückt. Doch Lolla-Wossiky war wütend. Er öffnete das Auge, um nicht mitansehen zu müssen, wie Alvin Junior sich über seine eigene Rache freute. Statt dessen hörte er nun die Schwestern kreischen, als die Schaben auf sie schwärmten. Und dann die Eltern und Brüder, die ins Zimmer stürzten. Und das Stampfen und Treten, als die Schaben getötet wurden. Lolla-Wossiky schloß die Augen und spürte die vielen Tode, jeder davon ein Nadelstich. Wie der Tod der Bienen.
    Schaben, nutzlose Tiere, die Abfälle fraßen, die schmutzige, scharrende Geräusche in ihren Nestern machten, abstoßend, wenn sie über die Haut krochen; doch sie gehörten zum Land, zum Leben, zur grünen Stille. Und ihr Tod war ein übles Geräusch, es war ein nutzloser Mord, weil sie einer Lüge vertraut hatten.
    Deshalb bin ich gekommen, erkannte Lolla-Wossiky. Das Land hat mich hierher geführt, es wußte, daß dieser Junge solche Macht besitzt; daß niemand da ist, um ihm beizubringen, wie er sie nutzen muß; daß niemand ihm beibringt, daß er erst abwarten soll, bis er das Bedürfnis des Landes spürt, bevor er es verändert.
    Ich bin nicht um meines eigenen Traumtieres willen gekommen, sondern um das Traumtier für diesen Jungen zu werden.
    Der Lärm legte sich wieder. Schwestern, Eltern, Brüder gingen wieder schlafen. Lolla-Wossiky preßte die Finger in die Ritzen zwischen den Holzstämmen, kletterte vorsichtig hinauf, die Augen geschlossen, damit das Land ihn führte und er sich nicht auf sich selbst verlassen mußte. Die Fensterläden des Jungen waren geöffnet, und Lolla-Wossiky schob die Ellenbogen über das Sims und stützte sich dort auf, um hineinzublicken.
    Zuerst mit geöffnetem Auge. Er sah ein Bett, einen Schemel mit säuberlich gefalteten Kleidern darauf und am Fuß des Bettes eine Wiege.
    Lolla-Wossiky schloß wieder das Auge. Alvin lag im Bett. Er spürte die Aufregung des Jungen wie ein Fieber.
    Mit erneut geöffnetem Auge kletterte Lolla-Wossiky über die Fensterbank und schwang sich auf den Boden. Er rechnete damit, daß Alvin ihn bemerken und losschreien würde; doch die Gestalt des Jungen lag reglos im Bett, es herrschte Stille.
    Der Junge konnte ihn nicht sehen, solange er das Auge offenhielt, genausowenig wie er den Jungen sehen konnte. Dies war schließlich das Ende des Traumes, und Lolla-Wossiky war das Traumtier des Jungen. Es war seine Pflicht, dem Jungen Visionen zu geben, und nicht als er selbst gesehen zu werden, als Whisky-Roter, dem ein Auge fehlte.
    Welche Vision werde ich ihm zeigen?
    Lolla-Wossiky griff in seine Weißenhosen, dorthin, wo er noch immer seinen Lendenschurz trug, und holte sein Messer aus der Scheide. Er reckte beide Hände empor, in einer davon hielt er das Messer. Dann schloß er sein Auge.
    Der Junge sah ihn immer noch nicht. Er hatte die Augen geschlossen. Also bündelte Lolla-Wossiky das weiße Licht, das er um sich fühlte, zog es zu sich heran, damit er sich immer heller und heller strahlen spürte. Das Licht trat aus seiner Haut hervor, und so riß er die Brust des Weißenhemdes auf, um dann die Hände wieder zu heben. Nun konnte der Junge sogar durch die Augenlider hindurch die Helligkeit wahrnehmen, worauf er die Augen öffnete.
    Lolla-Wossiky spürte, wie sehr die Erscheinung, zu der er geworden war, den Jungen entsetzte. Er war zu einem strahlenden und leuchtenden roten Mann geworden, einäugig, mit einem scharfen Messer in der Hand. Doch es war nicht Angst, was Lolla-Wossiky auslösen wollte. Niemand sollte sich vor seinem eigenen Traumtier fürchten. Also sandte er dem Jungen das Licht, um ihn zu umhüllen, und mit dem Licht zusammen schickte er ihm Ruhe.
    Der Junge beruhigte sich ein wenig, zappelte aber doch noch in seinem Bett, bis er schließlich aufrecht saß, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt.
    Es war Zeit, den Jungen aus seinem Lebensschlaf zu wecken. Ohne nachzudenken, wußte Lolla-Wossiky genau, was er tun mußte. Er nahm das strahlende Messer, führte die Klinge über die andere Handfläche – und stieß zu. Scharf, hart, tief, bis das Blut aus der Wunde hervorschoß und den Unterarm entlangströmte, um sich in seinem Ärmel zu sammeln.

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